NSU-Verfahren:Mehr als ein normaler Mordprozess

Zwischenbilanz zur NSU-Aufklärung

Eine Polizistin steht im August vergangenen Jahres in der Landespolizeidirektion in Erfurt neben Akten des NSU-Untersuchungsausschusses

(Foto: dpa)

Eine Chance, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen: Der NSU-Prozess wird einer der wichtigsten in der Geschichte Deutschlands. Es geht um den richtigen Ton, um Sensibilität für die Opfer, um Gespür für Atmosphäre. Damit dieser Prozess gelingt, braucht er allerdings größtmögliche Öffentlichkeit.

Ein Kommentar von Annette Ramelsberger

Im April beginnt vor dem Oberlandesgericht München ein Prozess, der einer der wichtigsten in der jüngeren Geschichte Deutschlands werden wird - und der gleichermaßen das Risiko zu großer Enttäuschung und die Chance zu großem Erfolg in sich birgt.

Das Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wird schon jetzt als "Stammheim gegen rechts" überhöht, es wird überfrachtet mit Erwartungen, Hoffnungen, Forderungen. Dieser Prozess soll richten, was die deutschen Behörden über 15 Jahre, zwei Sprengstoffanschläge und zehn Morde hinweg versäumt haben: Er soll das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates und die Verlässlichkeit seiner Organe wiederherstellen. Das ist auch deswegen so wichtig, weil Polizei und Verfassungsschutz bisher vor allem vertuscht und geschreddert, beschönigt und weggeschaut haben - und dies bereits 1998, als die Polizei vor einer Garage voller Sprengstoff stand und den Verdächtigen vom späteren NSU einfach davonschlendern ließ.

Der Prozess wird zeigen, ob es der Staat schafft, in dieser Hinsicht bei seinen Bürgern wieder Vertrauen zu gewinnen - gerade auch unter den Zuwanderern im Allgemeinen und jenen Menschen im Besonderen, die sich nach dem gewaltsamen Tod ihrer Angehörigen fragen lassen mussten, ob sie nicht selbst in der kriminellen Szene stecken. Die Begründung war, dass sie doch wissen müssten, warum ihr Mann, ihr Bruder, ihr Vater niedergestreckt wurde. Es waren Menschen, die sich in Deutschland wohlgefühlt hatten, denen aber der Boden weggezogen wurde - genau so, wie es der NSU beabsichtigt hatte.

Es geht um mehr als die Feststellung von Schuld oder Unschuld

Diese Menschen verlangen von dem bevorstehenden Prozess zu Recht mehr als die bloße Feststellung von Schuld oder Unschuld der fünf Angeklagten. Deswegen ist es kein normaler Mordprozess. Es geht auch darum, der Gesellschaft die Sicherheit zu geben, dass Rechtsextremisten nicht ungestraft Ausländer erschießen können. Diese früher so starke Gewissheit ist durch die Enthüllungen im Fall NSU arg erschüttert worden.

Die Familien der Opfer ziehen als Nebenkläger vor das Gericht. Die einen wollen wissen, warum es ausgerechnet sie getroffen hat, andere verlangen Genugtuung, einige auch Vergeltung. Allen diesen Wünschen kann das Gericht nicht genügen. Doch es darf sich auch nicht auf die Position zurückziehen, seine Aufgabe sei, ein revisionsfestes Urteil abzuliefern, und sonst nichts.

Das Gericht trägt gesellschaftliche Verantwortung

Das Gericht trägt, ob es will oder nicht, gesellschaftliche Verantwortung. Bisher haben die Kanzlerin, der frühere und der jetzige Bundespräsident beteuert, der Staat wolle seine Fehler wieder wettmachen. Der Bundestag mit seinem NSU-Untersuchungsausschuss müht sich um Aufklärung. Auch der Generalbundesanwalt hat durch die bis an die Grenzen des rechtlich Möglichen gehende Anklage gezeigt, dass die Justiz bei rechtem Terror kein Auge mehr zudrücken will. Doch alles hilft nicht, wenn der Prozess nicht gelingt.

Der Prozess braucht größtmögliche Offenheit

Es geht in diesem Verfahren nicht nur um juristische Brillanz. Es geht um den richtigen Ton, um Sensibilität für die Opfer, um Gespür für Atmosphäre. Verheerend wäre, wenn die Angehörigen von rechtsextremen Zuschauern verhöhnt würden, die zur Unterstützung ihrer Vorbilder kommen. Hier muss nicht nur das Gericht sofort einschreiten, sondern jeder Justizwachtmeister, jeder Polizist vor dem Gebäude muss das tun. Doch auch die Nebenkläger müssen eine Herausforderung bestehen: Sie werden den Angeklagten über Tage hinweg gegenübersitzen. Nicht jeder wird das gefasst überstehen. Doch vor Gericht zählen nicht Wut und Tränen, es zählt das Argument, das Indiz, der Beweis. Das müssen die Angehörigen anerkennen.

Damit dieser Prozess seine bestenfalls kathartische Wirkung entfalten kann, braucht er größtmögliche Öffentlichkeit. Doch ausgerechnet das ist nicht zu erwarten. Das Gericht tagt in einem zu kleinen Saal mit zu wenigen Plätzen für Besucher. Wo kein Zugang ist, gedeihen Legenden. Und wo man das Gesicht der Zeugen nicht sehen kann, weil das Gericht eine Sitzordnung vorgesehen hat, bei der die Nebenkläger im Rücken der Zeugen sitzen - da wachsen Verschwörungstheorien; vor allem, wenn es sich bei den Zeugen um ehemalige V-Leute handelt.

Natürlich ist es nicht die vordringlichste Aufgabe eines Strafprozesses, den Seelenfrieden der Angehörigen wieder herzustellen. Aber der Prozess sollte diese Chance nutzen: die Chance, Verletzungen zu heilen, Vertrauen zurückzugeben und die Menschen ihre verloren geglaubte Heimat wiederfinden zu lassen. Mit Sorgfalt, Transparenz und Mitgefühl. Im Fall NSU ist das mindestens genauso wichtig wie die Einhaltung der Strafprozessordnung.

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