Süddeutsche Zeitung

NSU-Urteil:Kopfschütteln, Buhrufe und noch längst kein Schlussstrich

  • In den ersten Minuten nach dem NSU-Urteil herrscht zurückhaltende Stimmung vor dem Gerichtsgebäude in München.
  • Die Strafe für Beate Zschäpe wird als angemessen empfunden. Ralf Wohlleben und Andre Eminger sind vielen aber zu glimpflich davongekommen.
  • Die Angehörigen und ihre Unterstützer mahnen, die Aufarbeitung dürfe nicht enden.
  • In den türkischen Medien ist das Urteil am Ende des fünfjährigen Prozesses nur eine Nachricht von vielen.

Von Martin Bernstein, Ferdos Forudastan und Luisa Seeling

Als im Saal A101 das Urteil gesprochen wird, passiert draußen auf dem Vorplatz des Münchner Strafjustizzentrums - nichts. Kein Beifall, keine Sprechchöre, keine lauten Rufe. Obwohl mehrere Hundert Demonstranten zusammengekommen sind, die fordern, der Tag des Urteils dürfe "kein Schlussstrich" sein, obwohl noch immer zahlreiche Menschen in der Schlange anstehen, um doch noch einen der 50 Zuhörerplätze im Saal zu bekommen, obwohl viele türkischstämmige Migranten gekommen sind. Fast scheint es, als sei Beate Zschäpe mit ihrer Verurteilung schon zur Randnotiz geworden.

Auch als von der Kundgebungsbühne herab die gerade verkündeten Urteile bekannt gegeben werden, wird es erst laut, als der Name André Eminger fällt. Es gibt Buhrufe. Zweieinhalb Jahre Haft, das sei eine "schockierende Nachricht, ein Schlag ins Gesicht", sagt Patrycja Kowalska vom "Bündnis gegen Naziterror und Rassismus".

Manche Menschen haben Tränen in den Augen, andere schütteln sprachlos den Kopf. Man müsse die Urteile differenziert betrachten, sagt die Münchner Grünen-Stadträtin Gülseren Demirel. Die Strafe für Beate Zschäpe gehe wohl in Ordnung. Aber Wohlleben, Eminger? "Das Vertrauen vieler Migranten in die Institutionen ist nach diesem Prozess erschüttert", sagt die Politikerin. Zu viele Fragen seien offen geblieben.

Ähnlich äußern sich in den ersten Minuten nach dem Urteil fast alle, die vor dem Gerichtsgebäude ausharren bis zur für den Abend angekündigten Großdemonstration. Eine Gruppe türkischer Nationalisten enthüllt am Rand der Veranstaltung eine riesige türkische Fahne, zeigt ein Atatürk-Bild und skandiert Parolen. Heftige Wortgefechte folgen. "Schämt Euch!", rufen Kundgebungsteilnehmer und werfen den Nationalisten vor, den Tag der Trauer und des Gedenkens für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Die Tochter eines Mordopfers spricht von einem wichtigen Schritt

Unter Angehörigen der NSU-Opfer - neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin - lösen die Urteile ein gemischtes Echo aus. So bezeichnet Gamze Kubaşık, die Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, die Urteile als einen "wichtigen Schritt". Aber nun müssten die weiteren Helfer des NSU gefunden und verurteilt werden. Wenn das Gericht ehrlich sei, werde es einräumen, dass Lücken geblieben seien. Und: "Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen."

Der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler sagt, man werde nicht zulassen, dass die Bundesanwaltschaft die Akte schließe. Deutliche Worte findet Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann, der zu den Teilnehmern der Kundgebung spricht: Das Urteil sei "eine Katastrophe, eine Aufforderung an Nazis". Die "Lüge vom Trio" NSU solle aufrecht erhalten werden.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoğlu, sagt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, im Rahmen dessen, was das Gericht zu verhandeln gehabt habe, seien die Urteile zwar zu begrüßen. Allerdings bedauere er, dass die Ermittler sich nicht viel mehr darum bemüht hätten, alle Hintergründe der Morde aufzuklären. Es gebe etwa wertvolle Informationen aus der Arbeit der NSU-Untersuchungsausschüsse oder Zeugenaussagen, die von der Bundesanwaltschaft nicht in das Verfahren eingebracht worden seien. Nun müsse die Aufklärung weitergehen, und das heiße vor allem, das Unterstützernetzwerk des NSU ins Visier zu nehmen. Nur so ließe sich das Vertrauen der Angehörigen in den Rechtsstaat wieder herstellen.

In eine ähnliche Richtung geht die Kritik des Zentralrats der Muslime. Mit den Urteilen könne man zwar leben, sagt dessen Vorsitzender Aiman Mazyek. Allerdings bleibe auch nach dem Prozess die Frage offen, welche Personen und welche Institutionen in die Mordserien verwickelt seien. So wisse man beispielsweise noch immer nicht genug über die Rolle des Verfassungsschutzes in Sachen NSU. Das alles belaste die Angehörigen sehr stark. Die Politik habe eine vollständige Aufklärung der Hintergründe der Verbrechen versprochen. Erst wenn diese Aufklärung erfolge, lasse der Rechtsfriede sich wieder herstellen.

Die türkische Regierung nennt das Urteil "nicht zufriedenstellend". Das Außenministerium in Ankara erklärt, die Türkei habe "zur Kenntnis genommen", dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft und ihre Mitangeklagten ebenfalls zu langen Haftstrafen verurteilt worden seien. Das Urteil habe aber "bedauerlicherweise" nicht den gesamten Hintergrund der NSU-Mordserie aufgeklärt. Mögliche Verbindungen der NSU-Täter zu einem "Staat im Staate" und zum Geheimdienst seien nicht aufgeklärt, die "wahren Schuldigen" seien nicht gefunden worden, kritisiert das Außenministerium. Die Türkei werde den Umgang mit dem NSU auch weiterhin "beobachten".

Die Türkei ist derzeit mit anderen Dingen beschäftigt

In der Türkei war das Interesse am NSU-Prozess in den vergangenen Jahren spürbar zurückgegangen. Anfangs, erzählt Rahmi Turan, freier Korrespondent in München, war die Aufmerksamkeit groß, vor allem, als es zunächst so schien, als könne sich kein türkisches Medium akkreditieren; bald aber sei der NSU von den Titelseiten verschwunden, heute interessierten sich nur noch wenige Bürger dafür. Turan ist einer der wenigen Journalisten, die das Verfahren all die Jahre kontinuierlich für türkische Medien begleitet haben, unter anderem für die regierungsnahe Tageszeitung Sabah und für den TV-Sender A Haber. Turan sagt, die türkische Berichterstattung sei insgesamt emotionaler gewesen, der Fokus habe auf den Opferfamilien gelegen und dem Unrecht, das ihnen auch seitens der deutschen Behörden widerfahren sei, nicht so sehr auf den technischen und juristischen Details.

Derzeit allerdings ist das Land mit anderen Dingen beschäftigt, "der NSU ist im Moment nicht gerade Thema Nummer eins in der Türkei", sagt Turan, und ein Blick auf die großen Nachrichtenseiten bestätigt das. Gerade erst hat das Land die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen hinter sich gebracht, es gab keinen Regierungs-, dafür aber einen Systemwechsel. Am Montag hatte der alte und neue Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Regierungsmannschaft vorgestellt, darunter auch einige überraschende Personalien, die Kommentarspalten sind voll davon. An diesem Mittwoch fielen zudem mehrere Urteile im Prozess um das Grubenunglück in Soma, bei dem 2014 mehr als 300 Menschen ums Leben kamen; Zschäpes Haftstrafe ist nur eine Nachricht von vielen.

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SZ vom 12.07.2018/jsa
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