Die Urkunde war vom Ministerpräsidenten persönlich unterschrieben. So weit kann sich Michael Lippert, einst Staatssekretär im thüringischen Innenministerium, noch erinnern. Wie es jedoch genau zur Berufung des umstrittenen Thüringer Verfassungsschutz-Chefs Helmut Roewer gekommen war, wer den Mann vorgeschlagen und wer ihm das Ernennungsschreiben in Erfurt ausgehändigt hatte, weiß der Spitzenbeamte a. D. heute angeblich nicht mehr: "Ich kann mich nicht erinnern", wiederholt Lippert immer wieder mit beinahe tonloser Stimme, mögen ihn die Abgeordneten im Thüringer Landtag auch noch so bohrend fragen.
Auch der frühere Erfurter Innenminister Franz Schuster (CDU), der in den neunziger Jahren Lipperts Vorgesetzter war, hat in diesem Punkt eine große Gedächtnislücke. Bereits zum zweiten Mal wird er an diesem Dienstag vor den Erfurter Untersuchungsausschuss zur Aufklärung von möglichen Pannen bei der Fahndung nach dem Rechtsterror-Trio "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) zitiert.
Doch ihm fällt wieder nichts ein zu der vielleicht wichtigsten Personalentscheidung, die während seiner Zeit als Innenminister getroffen wurde: "Das Kabinett hat da entschieden", sagt Schuster nur vage, er habe lediglich "eine neutrale Zuleitung" unterzeichnet.
Der Berufene kann ebenfalls kaum etwas zur Wahrheitsfindung beitragen: Roewer weiß angeblich nur noch, dass die Ernennungsurkunde in einem gelben Umschlag gesteckt habe, der ihm abends, irgendwann gegen 23 Uhr, in einer Erfurter Kneipe zugesteckt worden sei: "Ich war betrunken, es war dunkel", rechtfertigt der frühere Verfassungsschutzpräsident sein Erinnerungsleck - am nächsten Morgen habe er den Umschlag in seiner Tasche gefunden.
Wie auch immer die Ära Roewer im Frühsommer 1994 in Erfurt begann - es sollte eine der wohl schillerndsten Phasen in der Geschichte eines deutschen Landesgeheimdienstes werden. So berichten einstige Mitarbeiter heute vor dem Ausschuss, dass der Chef zuweilen barfuß über die Behördenflure geschlendert sei oder dort auch geradelt sei. Untergebene habe er in seinem Amtszimmer auch schon mal leger mit hochgelegten Beinen empfangen, die dreckigen Fußsohlen auf der Schreibtischplatte ruhend.
Nein, erklärt Roewer hernach in seiner Befragung, die er im dunkelblauen Anzug mit roten Wildlederschuhen bestreitet, dergleichen sei niemals vorgekommen. Auch das Candle-Light-Dinner, von dem der frühere Abteilungsleiter für Rechtsextremismus im Thüringer Geheimdienst, Friedrich Karl Schrader, dem Ausschuss berichtet hat, habe so nie stattgefunden.
Schrader, der ersichtlich ein Intimfeind Roewers war, hatte von Rotwein und Käse erzählt, von Kerzenschein und sechs Damen vom Amt. "Wie ein balzender Auerhahn" habe Roewer sich benommen. Und in diesem Ambiente habe er, Schrader, dem Chef auch noch von einer geheimen Observation Bericht erstatten sollen.
Auch diese Darstellung wird Roewer später entschieden dementieren. Nicht bestreiten kann und will der einstige Geheimdienstchef jedoch, dass die Umtriebe von Rechtsextremen in Thüringen bereits besorgniserregende Formen angenommen hatten, als er im Frühsommer 1994 seinen Dienst in Erfurt antrat: Er erinnert sich an die Randale von Rechtsextremen im einstigen Konzentrationslager Buchenwald - ein gravierender Vorfall, den Roewers einstiger Vorgesetzter und Staatssekretär a. D. Lippert freilich später zum Polizeifehler herunterspielt.
Für den heute 68-jährigen Lippert, der einst aus Bonn nach Erfurt kam, bestand die Gefahr von Rechtsextremen zumeist in durchreisenden Chaoten, die das "Transitland Thüringen" durchquert hätten, um rechte Aufmärsche in Hessen oder Franken zu besuchen.
Es sind weiß Gott nicht die einzigen Widersprüche, in welche sich die Zeugen verwickeln, die am Dienstag vor dem Thüringer Untersuchungssauschuss über jene Tage Auskunft geben sollen, als Roewer noch das Regiment in der Geheimdienstbehörde führte und es drei jungen Leuten aus Jena gelang, gleichsam unter den Augen von Polizei und Überwachungsbehörden spurlos zu verschwinden und später im Namen des NSU vermutlich zehn Morde zu begehen.
Abgründe tun sich auf, als einzelne Geheimdienstler von ihrem chaotischen Dienstalltag erzählen und sich gegenseitig mit Beschuldigungen überziehen, von Intrigen erzählen, die offenbar im Erfurter Verfassungsschutzamt gesponnen wurden.
Da gab es Konkurrenzklagen untereinander und ein Hausverbot. Einige Geheimdienstler, die in den neunziger Jahren aus Hessen nach Thüringen gewechselt waren, hatten zuvor offenbar Bekanntschaft mit dem Generalbundesanwalt gemacht. So berichtet ein Geheimdienstler von Ermittlungen und Durchsuchungen im hessischen Landesamt wegen Geheimnisverrats, Nötigung und Strafvereitelung.
Hernach in Erfurt brachte es einer der Hessen dann immerhin zum stellvertretenden Landesamtschef. Unterdessen wurde der Quellenschutz in Thüringen offenbar so lax gehandhabt, dass es sogar eine Beschwerde vom Kölner Bundesamt gab, wie der ehemalige Geheimdienstler Norbert Wießner berichtet.
Auch sei in Kaffeerunden offen über geheim zu haltende Quellen geplaudert worden, V-Männer hätten ihre Führungsbeamten gelegentlich gar zu Hause besucht. Geld für ihre Informanten hätten die Mitarbeiter nach eigenem Ermessen auszahlen können, von Dienst- oder Fachaufsicht sei nie etwas zu spüren gewesen. Und wenn dem Amtschef mal ein Mitarbeiter nicht passte, dann habe er schon mal kurzerhand das Referat aufgelöst.
Unterdessen geht auch Roewer scharf mit seinen ehemaligen Mitarbeitern ins Gericht. Als er im Sommer 1994 das Amt übernommen habe, seien zwar etwa 50 Beamte dort tätig gewesen. Aber: "Es gab nicht eine Person mit der erforderlichen Ausbildung im Amt - außer mir", behauptet der Jurist, der aus dem Bonner Innenministerium nach Erfurt gewechselt war.
Knapp, kurz und knurrig beantwortet Roewer, der im Jahr 2000 wegen des Verdachts auf finanzielle Unregelmäßigkeiten vom Präsidentenamt abgelöste worden war, die Fragen der Abgeordneten. Doch er vergisst nie, seine besonderen Kompetenzen herauszustellen. "Fachlich kompetent, entscheidungsstark und durchsetzungsfähig" sei er gewesen. "Ich galt als Spitzenkraft auf dem Gebiet."
Sein Ex-Vorgesetzter Lippert erklärt die schlechte Stimmung im Amt mit der "besonderen Psyche". Wegen der Geheimhaltungsbestimmungen hätten die Mitarbeiter daheim nichts über ihre Arbeit erzählen können, weshalb ihnen "die Erfolgserlebnisse fehlten". Das sei, erklärt Lippert, der heute im Energiebereich tätig ist, "wie bei einer Biogasanlage: Da brennt die Gasfackel oben, wenn unten Überdruck herrscht". Für eine Fackel gebe es beim Geheimdienst leider nichts Adäquates.
Ende 1991 waren in Thüringen die gesetzlichen Grundlagen für den Aufbau des Landesverfassungsschutzes geschaffen worden. Die Zeiten, so kurz nach dem Ende der DDR, waren turbulent: Minister kamen und gingen, "es war ja gleichzeitig alles zu erledigen", sagt Lippert.
Unterdessen bekamen die Rechtsextremen mehr und mehr Zulauf. Umso dringlicher schien es, das Landesamt zügig aufzubauen. Da bot sich Roewer offenbar angelegentlich einer Dienstreise in Erfurt an. Im Ausschuss wird Lippert jetzt ein Aktenvermerk aus dem Jahr 1994 vorgelegt, in dem Roewer für das Präsidentenamt vorgeschlagen wird - Lippert selber hat ihn unterschrieben. Tja, räumt der Jurist da plötzlich ein: "Sie wissen ja nie, ob's funktioniert, wenn sie einen Mitarbeiter einstellen."