Vor 24 Jahren begann die rechtsextremistische Terrorbande Nationalsozialistischer Untergrund, kurz NSU, zu morden – am Ende lagen zehn Menschen erschossen in ihrem Kiosk, ihrem Laden, ihren Blumenstand. Die rechte Mordserie erschütterte Deutschland, vor allem, weil sie jahrelang nicht als das Werk von Rechtsradikalen erkannt wurde. Um die Erinnerung an diese Morde wachzuhalten und um aus dem Versagen der Gesellschaft zu lernen, soll bis 2030 ein NSU-Dokumentationszentrum entstehen. Lange wurde um den Standort gerungen, nun ist er beschlossen: Der zentrale Erinnerungsort soll mitten in Berlin sein, nicht in Nürnberg, Dortmund oder Chemnitz, die sich auch darum beworben hatten.
Doch kaum ist der Ort gefunden, steht das ganze Projekt schon wieder auf der Kippe. Durch den Bruch der Ampelkoalition und die vorgezogene Neuwahl kommen die Planungen ins Stocken. Zwar soll das entsprechende Stiftungsgesetz demnächst das Bundeskabinett passieren, aber ob es vor einer Neuwahl noch im Bundestag verabschiedet werden kann, steht in Zweifel. Unter Befürwortern des Vorhabens und den Hinterbliebenen der Opfer wächst die Sorge, dass eine neue Bundesregierung dem NSU-Erinnern nicht dieselbe Priorität beimessen könnte, wie es die Ampel getan hatte.
Bald wird es eine Wanderausstellung zu den Morden geben
Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, die das Projekt vorbereitet, warnt im Gespräch davor, nun auf die Bremse zu treten. „Das NSU-Dokumentationszentrum hat zentrale Bedeutung für das Erinnern an eine blinde Stelle der deutschen Geschichte: die Blutspur des Rechtsextremismus, die die deutsche Geschichte durchzieht. Und der NSU wird nicht die letzte Terrorgruppe sein.“ Der NSU hat sich vor 13 Jahren selbst enttarnt, vor zwölf Jahren versprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Taten und die Hintergründe aufzuklären. „Wir können jetzt nicht noch mal zehn Jahre warten“, sagt Krüger.
Die Ampelregierung hatte das Projekt grundsätzlich in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Bundesinnenministerium hat zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung die Federführung bei der Ausgestaltung übernommen. Inzwischen sind die Vorarbeiten für das Dokumentationszentrum weit gediehen. Längst gibt es eine Machbarkeitsstudie, im Januar konstituiert sich der Beirat des Zentrums, in dem fast alle Familien der NSU-Opfer vertreten sind. Im ersten Halbjahr 2025 wird eine Wanderausstellung zu den Morden eröffnet, auch ein Online-Paket für Bildungsinstitutionen und Schulen ist in Vorbereitung.
Diese Planungen, sagt der CSU-Politiker Karl Freller auf Anfrage, fänden auch in seiner Partei und in der CDU breite Zustimmung. „Ich bin sicher, dass auch eine unionsgeführte Bundesregierung das Projekt entschlossen vorantreiben würde. Ich kann für die CSU sagen, dass es da eine hohe Sensibilität für das Thema gibt.“
Der Landtagsabgeordnete Freller gilt als wichtigste Stimme der CSU in der Erinnerungspolitik, er ist ehrenamtlich Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Auch er drängt auf eine „zügige Umsetzung“ des Dokuzentrums. „Die Morde des NSU waren ein Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und derzeit ist die Warnung vor dem Rechtsextremismus nötiger denn je“, so Freller.
Drohungen gegen den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald
In Koblenz, München, Stuttgart und Frankfurt stehen gerade rechtsextremistische Angeklagte vor Gericht, denen vorgeworfen wird, dass sie die Demokratie mit Waffengewalt beseitigen wollten. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, erhielt im Sommer Drohungen, nachdem er der AfD die Verharmlosung der NS-Zeit vorgeworfen hatte. In der deutschen Nachkriegsgeschichte haben Rechtsextremisten zahlreiche Morde begangen, vom Anschlag auf das Oktoberfest 1980 in München über den Mord an dem Nürnberger Verleger Shlomo Levin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke, ebenfalls 1980, bis zum NSU.
Die Terrorbande mordete zwischen 2000 und 2007 in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn; bei einem Bombenanschlag in Köln 2004 wurden 22 Menschen verletzt. Die Städte, in denen der NSU zugeschlagen hat, sollen laut dem Konzept der Bundeszentrale mit „dezentralen“ Erinnerungsstätten eingebunden werden. Das Dokumentationszentrum soll nun aber in Berlin entstehen.
Die Bundeszentrale hatte sich laut Präsident Krüger bei der politischen Entscheidung über den Ort zurückgehalten, um nicht einen potenziellen Standort gegen den anderen auszuspielen. Gerade Nürnberg, das engagiert die Erinnerungskultur pflegt, hatte sich Chancen ausgerechnet. „Ich hätte das Dokumentationszentrum gern in Nürnberg gesehen“, sagt CSU-Politiker Freller, „das wäre der emotional nähere Ort gewesen.“ Doch Berlin biete „als Hauptstadt natürlich auch Vorteile“.
Der Standort Berlin bietet eine große Chance
Auf Vorbehalte bei Opfern und Hinterbliebenen war dagegen Chemnitz gestoßen. Gamze Kubaşık, die Tochter eines NSU-Opfers aus Dortmund, hatte der SZ gesagt, ihre Mutter habe viel zu viel Angst, dorthin zu fahren. Für manche Opfer war Chemnitz ein Täter-Ort.
Krüger sieht im Standort Berlin eine große Chance: Jedes Jahr kommen Hunderttausende Schüler nach Berlin, dazu Tausende Besuchergruppen, die von ihren Bundestagsabgeordneten eingeladen werden. Junge Polizistinnen besichtigen die Hauptstadt ebenso wie junge Soldaten. „Mit einem Standort in Berlin wird das Gedenken ins politische und kulturelle Zentrum der Republik getragen“, sagt Krüger. „Hierher kommen Schulklassen vom Emsland bis zur Niederlausitz – diese Infrastruktur hat man woanders nicht. Und wir wollen die nächste Generation erreichen, die die Fackel der Erinnerung weiterträgt.“
Das Dokumentationszentrum soll dem Konzept zufolge „auf Augenhöhe mit großen bundesweiten und internationalen Institutionen“ zusammenarbeiten können. Vorgesehen sind eine Gesamtfläche von 5000 Quadratmetern und perspektivisch etwa 45 Mitarbeitende. Für Krüger muss es kein Neubau sein, auch die Nutzung eines alten Gebäudes in Berlin kann er sich vorstellen. Nur eines findet er – neben der Aufarbeitung und historischen Einordnung der NSU-Verbrechen – unverzichtbar: „Es muss dort auch einen Ort der Stille und des Gedenkens geben. Unter dem sollte man es nicht machen.“
Nach der Selbstenttarnung des NSU hatten die damalige Bundeskanzlerin Merkel und der damalige Bundespräsident Christian Wulff auch gesagt, das Land müsse alles versuchen, das Vertrauen der Opferfamilien wiederzugewinnen – jener Familien, die über Jahre verdächtigt worden waren, selbst etwas mit den Morden zu tun zu haben.
Falls das Dokumentationszentrum nun nicht käme, so Thomas Krüger, würde das einen tiefgreifenden Vertrauensverlust der Betroffenen und der engagierten Zivilgesellschaft in die politisch Verantwortlichen bedeuten. „Auch eine neue Regierung kann es sich schlicht nicht leisten, das Thema ad acta zu legen.“