NSU-Prozess:Wie die NSU-Opfer-Anwälte gegen die Behörden kämpfen

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438 Sitzungstage, aber kein offizielles Protokoll: Der NSU-Prozess in München. (Foto: Peter Kneffel/dpa)
  • Seit bekannt wurde, dass ein Anwalt im NSU-Prozess mehrere Jahre lang ein Opfer vertrat, dass es gar nicht gab, haben NSU-Opfer-Anwälte einen schlechten Ruf.
  • Doch viele der Opfer-Anwälte leisten mühevolle Kleinarbeit - auch wenn die Behörden ihnen oft Steine in den Weg legen.

Von Annette Ramelsberger, München

Am Mittwoch haben sie wieder Anlauf genommen. Sie haben die hintersten Winkel der NSU-Akten durchsucht, haben Abhörprotokolle gelesen, Meldungen des Verfassungsschutzes durchwühlt, die Auswertung einer alten Festplatte studiert und dann viele Anträge gestellt.

Die Vertreter der NSU-Opfer haben Fotos von Holger G. aufgestöbert, die ihn bei drei Nazi-Demos im Jahr 2005 zeigen - der Angeklagte aber sagt von sich, er habe sich schon 2002 aus der rechten Szene gelöst. Und sie haben eine Computerauswertung gefunden, wonach Holger G. auf seiner Festplatte drei Dateien mit Paulchen-Panther-Bildern gelöscht hat. Mit solchen hatte der NSU sein Bekennervideo geschnitten. Aber damit will Holger G. nichts zu tun gehabt haben.

Über eine Stunde lang haben die Anwälte der Opferfamilien Simsek und Kubasik geredet. Und wenn ihnen eines gelungen ist, dann, dass in der letzten Reihe der Anklagebank ein Mann bis über beide Ohren rot anläuft und unruhig auf seinem Platz hin und her wetzt: Holger G., einer der engsten Vertrauten des NSU-Trios, der bisher komfortabel unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit blieb. Dabei hatte er dem Trio Pässe und Führerscheine verschafft und hatte mit ihm Urlaub gemacht.

Die Anwälte müssen vor allem eins sein: frustrationsresistent

Nun sitzt er hier und fühlt sich sichtlich unwohl. Für die Vertreter der Nebenklage ist schon das ein Erfolg. "Der weiß viel mehr. Ich verstehe nicht, warum das BKA nicht infrage stellt, dass Holger G. aus der rechten Szene ausgestiegen ist", sagt die Berliner Anwältin Antonia von der Behrens.

Und ihr Kollege Sebastian Scharmer kritisiert: "Die Bundesanwaltschaft sagt, sie habe jeden Stein zum NSU umgedreht. Und dann kommt raus, dass der NSU rund um den Kiosk von Mehmet Kubasik in Dortmund vier Objekte ausgespäht hatte - und die Leute dort wurden nicht mal gefragt, ob sie Verdächtiges wahrgenommen haben."

Die Vertreter der Nebenklage leisten mühevolle Kleinarbeit. Immer wieder lehnt das Gericht ihre Anträge ab zu ermitteln, ob es Helfer des NSU in Nürnberg, in Dortmund, in Kassel gab. Gerade hat das Gericht abgelehnt, den Verbindungen militanter Dortmunder Rechtsradikaler um einen Mann namens "SS-Sigi" zum Mord an Mehmet Kubasik in Dortmund nachzugehen. Es bedeute nichts für die Schuld der Angeklagten, erklärte das Gericht.

Mehr als 80 Opfer lassen sich im NSU-Prozess durch 60 Anwälte vertreten - und diese 60 Anwälte müssen vor allem eines sein: frustrationsresistent. Denn so sehr sie auch ackern, wie hartnäckig sie nachhaken, wie sehr sie Zeugen ins Schwitzen bringen, seit Kurzem werden sie nur noch eines gefragt: Ist dieser Prozess eine Wärmestube für Anwälte? Wie kann ein Anwalt zweieinhalb Jahre lang ein Opfer des NSU vertreten, das es gar nicht gibt?

Am Dienstag bestätigte das Bundeskriminalamt im Prozess: Das angebliche NSU-Opfer Meral Keskin, das der Anwalt Ralph Willms über 200 Verhandlungstage vertreten hatte, gibt es gar nicht. Erfunden. Offenbar von einem echten Opfer des Anschlags aus der Kölner Keupstraße, dem der Anwalt Provision für die Vermittlung von Mandanten gezahlt hatte. Aufgeflogen, als das angebliche Opfer zum dritten Mal nicht vor Gericht erschien.

Es ist ein Vorgang, der die anderen Anwälte zutiefst verärgert, gerade die kämpferischen um die Berliner Sebastian Scharmer, Peer Stolle, Antonia von der Behrens und die Frankfurter Anwältin Seda Basay. Leute, die seit zweieinhalb Jahren jede Woche nach München reisen, die Nächte durcharbeiten und ihre Anträge um 3.22 Uhr morgens verschicken. Ihre Kanzleiarbeit tun sie am Wochenende.

Abgekämpft sei sie, nach 242 Verhandlungstagen, sagt Anwältin Basay. Ihre Spezialität: Sie stellt den verstocktesten Zeugen im freundlichsten Ton Fragen, in sanftem Hessisch. Sie ist in Marburg geboren. Und kriegt die Leute dazu zu reden.

Doch der ständige Kampf mit rechtsradikalen Zeugen geht nicht spurlos an ihr vorüber. "Es macht mich traurig und wütend, wenn diese Leute mir das Existenzrecht absprechen. Sie sagen einem das ja ins Gesicht." Und dann sprechen auch noch Polizeibeamte von "Ur-Deutschen" und denken sich nichts dabei. "Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich kein Teil dieser Gesellschaft bin und es auch niemals sein werde", sagt Basay.

Jeder engagiert sich auf seine Weise

Dieser Prozess berührt nicht nur die Opfer, auch ihre Anwälte. Die Gedanken kreisen ständig um den Prozess. Die Kreuzberger Anwältin von der Behrens will mit ihrer Arbeit auch all dem etwas entgegensetzen, was schiefgegangen ist: bei der Polizei, dem Verfassungsschutz, den Staatsanwälten. "Auch ich habe die Morde nicht als rassistische Serie erkannt. Ich bin dem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Jetzt will ich zur Aufklärung beitragen", sagt sie.

Jeder engagiert sich auf seine Weise. Es gibt die vornehmen Hamburger Anwälte Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle, die nicht müde werden, die Verwicklung des Verfassungsschützers Andreas Temme zu hinterfragen, der mit großer Wahrscheinlichkeit den Mord in Kassel erlebt hat, aber nichts gesehen haben will.

Es gibt den linken Anwalt Alexander Hoffmann aus Kiel, der jede Verästelung der rechtsradikalen Szene beleuchtet und den Wühler Yavuz Narin aus München, der durch Deutschland reist und ohne Scheu Rechtsradikale befragt, ob es noch weitere Verbindungen zum NSU gibt. Die Münchner Anwältin Angelika Lex hat ihr Mandat erst vor Kurzem niedergelegt, obwohl sie seit Monaten schwer krank ist. Sie ist eine derjenigen, die ihr Herzblut für diesen Prozess geben.

Aber es gibt auch die anderen. Die, die nur kommen und wieder gehen. Die vor dem Gerichtssaal in Mikrofone sprechen, aber drinnen nichts sagen. Und selbst welche, die ihre Mandanten im Stich lassen, wenn es drauf ankommt. Ganz allein musste die Witwe des ermordeten Münchner Gemüsehändlers Habil Kilic auf dem Zeugenstuhl Platz nehmen.

Offensichtlich hatte ihr Anwalt die Frau nicht vorbereitet, was sie hier erwartet: Dass der Richter sie noch einmal alles fragt, was sie bei der Polizei gesagt hat. Die Frau ist verstört, verbittert, sie speist den Richter kurz ab. Irgendwann bittet der Richter den Anwalt, endlich seiner Mandantin zu helfen. Allein war der nicht darauf gekommen. Sein Honorar aber ist das gleiche wie das der Anwälte, die bis tief in die Nacht arbeiten und sich für den Prozess verzehren.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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