Es ist fast schon zu einem Ritual geworden, dass sich im NSU-Prozess Anwälte und Richter mindestens einmal am Tag ordentlich anblaffen. Als nun der frühere Leiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz, Lutz Irrgang, als Zeuge auftritt, ist es kurz vor der Mittagspause so weit. Ein Vertreter der Nebenklage stellt lauter Fragen, die offenbar zeigen sollen, wie borniert und unkooperativ sich das Amt verhielt, als die Polizei im Jahr 2006 gegen einen Verfassungsschützer ermittelte, der sich in Kassel an einem Tatort aufgehalten hatte. Richter Manfred Götzl ermahnt den Anwalt: Es gehe nicht an, "dass Sie hier die Befragung eines Untersuchungsausschusses nachholen wollen".
Es ist ein Konflikt, der im NSU-Prozess immer wieder ausbricht. Da sind auf der einen Seite die Erwartungen der Opferfamilien. Sie möchten, dass die Taten so umfassend wie möglich und dabei auch die Fehler und das Versagen der Behörden aufgeklärt werden. Da ist auf der anderen Seite der Anspruch des Gerichts, die ohnehin komplexe Anklage zügig abzuarbeiten und im Sinne des sogenannten Beschleunigungsgebots den Prozess nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Regelmäßig verliert nicht nur der Richter die Geduld, sondern auch die Verteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Am Mittwoch interveniert ihr Anwalt Wolfgang Stahl: Die Fragen des Nebenklage-Anwalts würden "verfahrensfremden Zwecken" dienen. Die Bundesanwaltschaft formuliert es ähnlich.
Große Unruhe beim Verfassungsschutz
Die meisten Fragen lässt der Richter schließlich aber zu. Und so wird ausführlich erörtert, was der Ex-Verfassungsschutz-Chef Irrgang wann und woher über den Mord erfuhr. Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel erschossen. Irrgang war im Urlaub. Als wenige Wochen später sein Mitarbeiter Andreas T. unter Verdacht geriet und kurzzeitig festgenommen wurde, erfuhr Irrgang dies, als er eines Freitagabends von einem Theaterbesuch nach Hause kam.
Es habe große Unruhe im Amt geherrscht, diese habe sich später jedoch wieder gelegt. Angeblich führte Irrgang bis zum Sommer 2006 kein persönliches Gespräch mit dem Mitarbeiter. Das Amt habe sich, gemäß dem Wunsch der Polizei, zurückgehalten.
Konnte der Beamte den niedergeschossenen Halit Yozgat übersehen?
Aufseiten der Nebenkläger besteht dagegen der Verdacht, der Verfassungsschutz könnte damals mehr über die Vorgänge im Internetcafé gewusst haben als die Polizei. Nahrung erhielt dieser Verdacht durch das Protokoll eines abgehörten Telefonats. Darin äußerte sich ein Kollege von Andreas T. in einer Weise, die nahelegt, dass T. seinem Chef mehr erzählte als der Kriminalpolizei. Doch Irrgang bestreitet, damals mehr erfahren zu haben als das, was Andreas T. in einer dienstlichen Erklärung aussagte. T. beteuerte damals - und tut dies bis heute -, dass er nur zufällig am Tatort gewesen sei und von dem Mord nichts mitbekommen habe. Womöglich sei er wenige Sekunden zuvor bereits aus dem Laden gegangen.
Die Bundesanwaltschaft sieht keine Verbindung zwischen T. und dem NSU. Die Nebenkläger halten es allerdings für unwahrscheinlich, dass der Beamte den niedergeschossenen Halit Yozgat übersehen konnte. Mit Andreas T. wurde eine Rekonstruktion am Tatort versucht; ein Video davon wird im Gericht vorgespielt.
Es zeigt, wie T. das Internetcafé verließ und zuvor, weil er den Betreiber nicht vorfand, Geld auf einem Schreibtisch ablegte. Das Opfer lag zu dem Zeitpunkt vermutlich schon auf dem Boden hinter dem Tisch. Dieser war recht niedrig, und so verstärkt das Video den Eindruck, dass T. das Opfer eigentlich hätte sehen müssen.