Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Verteidiger fordern Freispruch für Carsten S.

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Aus dem Gericht von Anette Ramelsberger und Wiebke Ramm, München

Carsten S. ist eine Figur wie aus einer Tragödie. Ein Mann, der vor Gericht weint, der sich mit Angehörigen der NSU-Opfer trifft, der so schwer an seiner Schuld trägt, dass sie ihn fast erdrückt. Der sagt, dass seine Tat "einer Verzeihung und Vergebung nicht zugänglich" sei. Ein Mann, der die rechte Szene vor Jahren verließ, bei der Aidshilfe arbeitete und sich zu seiner Homosexualität bekannte.

Und doch war Carsten S. als junger Mann so fasziniert von der rechten Kameraderie, dass er der Mörderbande NSU im Frühjahr 2000 die Tatwaffe für neun Morde überbrachte. Er ist deshalb wegen Beihilfe zum neunfachen Mord angeklagt. Die Bundesanwaltschaft hat für ihn drei Jahre Haft gefordert, nach Jugendstrafrecht. Nur drei Jahre Haft, muss man sagen: Denn Carsten S. hat von Anfang an alles getan, um die Taten des NSU aufzuklären. Seinen Verteidigern ist das nicht milde genug. Sie fordern Freispruch für ihn.

Die NSU-Mitglieder lebten schon im Untergrund, als sie den damals 20 Jahre alten Carsten S. baten, ihnen eine Waffe zu besorgen. Carsten S. brachte eine Ceska mit Schalldämpfer - und dieser Schalldämpfer gilt der Bundesanwaltschaft als klares Indiz dafür, dass Carsten S. wusste, dass die Waffe für mögliche Morde verwendet werden könnte. Das Geld für die Ceska soll er von dem Angeklagten Ralf Wohlleben erhalten haben. Beide sind wegen Beihilfe zu neun Morden angeklagt.

Tagelang hat Carsten S. vor Gericht ausgesagt. Es war sehr mühsam, ihm zuzuhören.

Im Kern geht es darum, was Carsten S. gedacht hat, als er die Waffe übergab. Ob er sie besorgte, ohne darüber nachzudenken, was damit geschehen kann. Oder, und das ist rechtlich der große Unterschied, ob er sie den Mördern des NSU übergab, weil es ihm egal war, was damit geschah, weil er die Ideologie guthieß. Ob er die Morde also billigend in Kauf genommen hat.

Von so einem bedingten Vorsatz wollen die Verteidiger Jacob Hösl und Johannes Pausch nichts wissen. Dass der NSU mit dieser Waffe neun Menschen mit ausländischen Wurzeln töten würde, das habe Carsten S. nicht einmal geahnt, sagen sie. Rassistischen Serienmördern das Tatwerkzeug zu überreichen, sei schlichtweg jenseits seiner Vorstellungswelt gewesen - obwohl er in der rechten Szene aktiv war.

Tagelang hat Carsten S. vor Gericht ausgesagt. Es war sehr mühsam, ihm zuzuhören. Wie er auf die einfache Frage, was er sich denn gedacht habe bei der Tat, nur antwortete: "Ich weiß es nicht mehr." Sein Anwalt Pausch schaut in den Saal und sagt: "Viele von Ihnen haben im Verlauf der langen Einvernahme von Carsten S. sicher mitunter gedacht: Mein Gott, warum sagt er denn nicht einfach, wie es war und was er empfunden hat!" Und viele hätten gedacht, Carsten S. halte etwas zurück. Doch S. habe sich damit nicht schützen wollen. "Was wir erlebt haben, war schonungsloses, uneigennütziges Bemühen um Aufklärung. Wo dies nicht gelang, war er sichtlich verzweifelt", sagt Pausch.

Die Bundesanwaltschaft dagegen wirft Carsten S. vor, sich bewusst nicht mehr zu erinnern, warum er eine Waffe mit Schalldämpfer übergeben hatte. Sie nimmt ihm auch nicht ab, dass er den Schalldämpfer zur Ceska gar nicht bestellt hatte, wie er immer wieder beteuerte. Sie glaubt ihm auch nicht, nie überzeugter Neonazi gewesen zu sein. Immerhin war er Aktivist der Kameradschaft Jena und stellvertretender Vorsitzender der Jugendorganisation der NPD in Thüringen. Er war bei Übergriffen auf politische Gegner dabei. Für seine Anwälte ist dies nicht mehr als "eine Episode" in der Zeit, in der er sich selbst suchte.

Dass Carsten S. bereut, was er getan hat, daran zweifelt kaum jemand. Verteidiger Hösl sagt, es belaste seinen Mandanten sehr, dass er in all den Jahren nie zur Polizei gegangen ist. Der Gedanke lasse ihn nicht los, dass er möglicherweise Menschenleben hätte retten können. Hösl erinnert daran, dass Carsten S. gerade erst 18 Jahre alt war, als er damit betraut wurde, heimlich Telefonate mit den drei Abgetauchten zu führen. Carsten S. habe nie zum elitären Zirkel um Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe gehört.

Carsten S. habe als Einziger im Prozess umfassend ausgesagt, sagt Pausch. Hätte er bei der Identifikation der Tatwaffe geschwiegen, säße er vermutlich nicht hier. Die Familien vieler Mordopfer bitten darum, Carsten S. nur zu einer Bewährungsstrafe zu verurteilen. Die Witwe des ermordeten Theodoros Boulgarides hat sich mit Carsten S. getroffen. Den Richtern schilderte sie ihn als Menschen, "dem das eigene Gewissen bereits den größten Teil seiner Strafe auferlegt hat"

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SZ vom 03.05.2018
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