Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Schwierige Aufgabe der Gutachter

Kontaktfreudig, selbstbewusst, unbefangen: Der renommierte Psychiater Saß hält die mutmaßliche Terroristin Beate Zschäpe für voll schuldfähig. Zwar gebe es Anzeichen für eine schwierige Kindheit, doch deute nichts auf eine psychische Störung der 38-Jährigen hin.

Von Tanjev Schultz

Beate Zschäpe schweigt beharrlich; auch von einem Psychologen ließ sie sich nicht befragen. Dennoch liegt dem Gericht in München jetzt ein "vorläufiges forensisch-psychiatrisches und kriminalprognostisches Gutachten" vor. Darin heißt es, Zschäpe sei "offenbar kontaktfreudig, selbstbewusst, unbefangen und tatkräftig". Den Kontakt zu dem erfahrenen Psychiater Henning Saß vom Uni-Klinikum Aachen hat sie aber lieber gemieden. Der Professor konnte sich bisher nur aus den Akten ein Bild machen, erst im Gerichtssaal wird er Zschäpe begegnen.

Aus dem umfangreichen Material, das ihm vorliegt, kann Saß "keine Hinweise für wesentliche Gesundheitsstörungen entnehmen". Es gebe Anhaltspunkte für eine "schwierige Kindheit", nicht aber für eine relevante psychische Störung. Zschäpe wäre demnach voll schuldfähig.

Henning Saß war schon in vielen Kriminalfällen als Gutachter tätig, beispielsweise nach dem Mord an Rudolph Moshammer. Im NSU-Prozess soll er beurteilen, ob das Gericht für Zschäpe eine Sicherungsverwahrung anordnen kann, falls es zu einem Schuldspruch kommt. Sicherungsverwahrung bedeutet, dass ein Verurteilter auch nach der verbüßten Strafe nicht freikommt, weil er weiter als gefährlich gilt.

Wie gefährlich war und wie gefährlich ist Beate Zschäpe, die mutmaßliche Terroristin? Ein Spezialeinsatzkommando wird sie am Montag aus dem Gefängnis zum Gericht bringen. Die Justizvollzugsanstalt München hat besondere Sicherungsmaßnahmen erlassen. Außerhalb des Gefängnisses soll Zschäpe Hand- und Fußfesseln tragen. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr unter anderem Mittäterschaft bei zehn Morden vor.

Zschäpe soll gleichberechtigtes Mitglied des NSU gewesen sein

Die Ankläger sind überzeugt, dass Zschäpe die Morde, die ihre Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verübt haben sollen, genauso wollte wie diese. Gutachter Saß sieht ebenfalls "keinerlei Hinweise auf einen Widerstreit etwa zwischen den beteiligten Personen oder auf Bedenken, Zweifel und innere Distanzierung bei Frau Zschäpe selbst".

Dennoch ist der Psychiater in seinem 71 Seiten starken Gutachten deutlich vorsichtiger als die Anklagebehörde. Zwar schreibt er, Zschäpe "scheint unter den vorwiegend männlichen Kameraden durchaus gleichberechtigt und akzeptiert gewesen zu sein". Das bezieht er jedoch, ebenso wie den Eindruck, sie sei unbefangen und selbstbewusst, zunächst nur auf die Zeit vor dem Untertauchen des Neonazi-Trios in den Neunzigerjahren. Am Ende führt Saß eine Reihe von Punkten auf, die erst noch zu klären seien - darunter die Frage, "wie die Rollenaufteilung in der Dreiergemeinschaft war, ob und welche hierarchischen Strukturen bestanden".

Aus Sicht der Ankläger identifizierte sich Zschäpe mit allen Taten des NSU. Sie soll, indem sie unter anderem für die Tarnung des Trios zuständig gewesen sei, als gleichberechtigtes Mitglied ihren Beitrag zu den Verbrechen geleistet haben. Zschäpes Verteidiger werden versuchen, diese Darstellung zu erschüttern, und der Gutachter zeigt sich zumindest offen für mögliche andere Versionen. Saß schreibt: "Nur wenige Kenntnisse gibt es bislang darüber, wie in den Jahren des Lebens im Untergrund die emotionale und soziale Entwicklung der Frau Zschäpe innerhalb der Dreiergruppe verlaufen ist."

Bereits vor ihrem Untertauchen waren Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe als fanatische Rechtsextremisten aufgefallen. Nicht nur der Gutachter würde gerne wissen, "ob es inzwischen Hinweise für eine Veränderung in den inneren Überzeugungen gibt". Saß fragt sich, ob bei der heute 38-jährigen Zschäpe "Formbarkeit und Plastizität" in der Persönlichkeit erkennbar seien - oder ob von längst "eingeschliffenen Überzeugungen auszugehen ist". Es ist eine der Kernfragen: Gibt es bei Beate Zschäpe irgendwelche Zeichen der Reue? Ist sie eine unbelehrbare Rechtsextremistin? Ist sie bereit und fähig, sich vom NSU und dessen Taten zu distanzieren?

Für besonders interessant hält Saß die Umstände, unter denen der NSU seine Bekennervideos produziert und verbreitet hat. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Zschäpe mehrere DVDs verschickt hat, nachdem Mundlos und Böhnhardt sich im November 2011 selbst getötet hatten. Der genaue Ablauf der Versendung ist aber bisher nicht geklärt.

Der Gutachter würde gerne wissen, inwieweit bei Zschäpe "von einer Verinnerlichung und Billigung sowie von einer andauernden Zustimmung" zum Inhalt der Bekenner-DVDs auszugehen sei. Das alles wird sich allerdings kaum beurteilen lassen, solange Zschäpe schweigt.

Carsten S. habe sich glaubhaft von der Szene gelöst

Andere Gutachter im NSU-Verfahren haben es da etwas leichter. Neben Zschäpe sitzen vier mutmaßliche NSU-Unterstützer auf der Anklagebank, darunter Carsten S., der einmal Funktionär in der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" war. Carsten S. hat vor den Ermittlern ein umfangreiches Geständnis abgelegt und sich auch bereitwillig psychologisch untersuchen lassen. Carsten S. soll dem NSU-Trio um die Jahrtausendwende geholfen haben, jene Ceska-Pistole zu beschaffen, mit der die NSU-Killer dann neun Menschen mit türkischen oder griechischen Wurzeln ermordeten. Carsten S. beteuert, von den Morden nichts gewusst zu haben. Er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

Zum Tatzeitpunkt, als er die Waffe beschaffte, war der heute 33-Jährige erst 19 oder 20 Jahre alt und damit ein Heranwachsender, bei dem nun geprüft werden muss, ob noch das Jugendstrafrecht angewendet werden kann. Ja, sagen zwei Gutachten.

Eines davon hat der Essener Psychiater Norbert Leygraf verfasst. Er will rückblickend "Reifungsdefizite" bei Carsten S. erkannt haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei die schwierige "sexuelle Identitätsfindung": Carsten S. ist homosexuell, hat sich aber erst spät dazu bekannt und sich dann, nach dem Eindruck der Gutachter ebenso wie der Ermittler, glaubhaft von der rechtsextremen Szene gelöst.

Das zweite Gutachten, ein sogenannter Jugendgerichtshilfebericht, kommt zu einem ähnlichen Urteil wie Professor Leygraf. Dort ist die Rede von einem "langen Findungsprozess" bei Carsten S. Dessen Werdegang nach dem Ausstieg aus der rechten Szene erwecke den Eindruck, dass da jemand "ein neues Leben beginnt".

"Ich dachte, ich muss mich nie mehr mit dem Carsten von damals auseinandersetzen", sagte er, recht aufgelöst, in einer Vernehmung. Das Gericht wird Carsten S. mit seinem alten Leben konfrontieren.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2013/kjan
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