Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Psychiater: Zschäpe befand sich "in einer Art verschärfter Geiselhaft"

  • Professor Joachim Bauer hat am Mittwoch im NSU-Prozess im Auftrag der Verteidigung sein Gutachten über Beate Zschäpe erstattet.
  • Der Psychiater sieht bei der mutmaßlichen Rechtsterroristin im Tatzeitraum eine schwere abhängige Persönlichkeitsstörung vorliegen.
  • Zschäpe habe sich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nicht lösen können und sei zurzeit der NSU-Verbrechen vermindert schuldfähig gewesen.

Aus dem Gericht von Wiebke Ramm

Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München hat am Mittwoch der Freiburger Psychiater Joachim Bauer ausgesagt. Bauer erstattete auf Ladung von Beate Zschäpes Verteidigern Hermann Borchert und Mathias Grasel sein Gutachten über die mutmaßliche Rechtsterroristin. Er diagnostizierte bei ihr im Tatzeitraum der NSU-Verbrechen eine schwere abhängige Persönlichkeitsstörung. Die Voraussetzungen für eine verminderte Schuldfähigkeit seien gegeben.

Zschäpe habe sich aufgrund ihrer Abhängigkeit vor allem von Uwe Böhnhardt nicht von ihm und Uwe Mundlos lösen können. Sie habe sich nach dem ersten Mord im September 2000 "in einer Art verschärfter Geiselhaft" befunden, so Bauer. Zschäpe habe bei einer Festnahme - trotz behaupteter Unschuld - die strafrechtlichen Konsequenzen gefürchtet und sich aufgrund ihrer psychischen Störung nicht von den Männern trennen können.

"Ich hatte Todesangst", sagte Zschäpe über Böhnhardts Gewaltausbrüche

14 Stunden lang hat Zschäpe mit Bauer gesprochen. Ihm gegenüber hat sie erstmals von schweren körperlichen Misshandlungen durch Böhnhardt berichtet. "Die schlimmste Zeit" seien die Jahre 1998 bis 2001 gewesen, habe sie ihm gesagt. Einmal habe Böhnhardt ihr in den Bauch getreten, als sie schon am Boden lag, woraufhin sie sich erbrochen habe. Ein anderes Mal habe Böhnhardt sie gewürgt, um sie zum Schweigen zu bringen. "Ich hatte Todesangst", sagte Zschäpe dem Psychiater. Die Anlässe für die Gewaltausbrüche seien banal gewesen: Streit ums Geld, Zschäpes Alkoholkonsum. Dass Böhnhardt mit Gewalt reagierte, wenn sie ihn aus Entsetzen über die Morde angeblich anschrie, davon berichtete Bauer nichts.

Bauer glaubt Zschäpe. Daran lässt er keinen Zweifel. Zschäpe fehle das schauspielerische Talent, die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben künstlich zu erzeugen, so der Psychiater. Er nimmt Zschäpe auch ihr behauptetes Entsetzen über die zehn vorwiegend rassistischen Morde ab, von denen sie immer erst hinterher erfahren haben will.

Zschäpe habe die Gewaltattacken durch Böhnhardt und ihre schwierige Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter und wechselnden Betreuungspersonen schon im Säuglingsalter zu keinem Zeitpunkt als Entschuldigung angeführt, betonte Bauer immer wieder. Im Gegenteil: Aus "Scham" habe Zschäpe vor Gericht über ihre Verteidiger bisher nur vage Angaben zu diesen Bereichen gemacht und hätte laut Bauer am liebsten weiter dazu geschwiegen. Zschäpe habe einen vollständigen Zusammenbruch gefürchtet, wenn sie sich diesen Bereichen ihres Lebens öffnen würde.

Eine abhängige Persönlichkeitsstörung zeichnet sich laut Fachliteratur durch ein tief greifendes Bedürfnis aus, versorgt zu werden. Dies führe zu einem unterwürfigen, klammernden Verhalten und massiven Trennungsängsten. Als Beleg für das Vorliegen einer solchen psychischen Störung bei Zschäpe nannte Bauer unter anderem, dass sie massiv gelitten habe, als sich Böhnhardt 1996 von ihr - vorübergehend - getrennt habe. Laut Zschäpe habe Böhnhardt als Trennungsgrund genannt, "dass ich zu sehr klammern und ihm keine Luft lassen würde".

Schon im Dezember 2015 hatte Zschäpe ihren Verteidiger vor Gericht sagen lassen, dass sie die Morde nicht gewollt habe. Sie habe sich jedoch nicht von Mundlos und Böhnhardt lösen können und nicht die Kraft gehabt, "Konsequenzen zu ziehen". Ein Mord folgte auf den anderen. Zschäpe: "Es war eine unendliche Leere in mir." Für Bauer ist dies typisch für eine abhängige Persönlichkeitsstörung.

Der vom Gericht beauftragte Psychiater Henning Saß war in seinem Gutachten über Zschäpe zu einem gegenteiligem Ergebnis gekommen. Saß hat Zschäpe als selbstbewusste, nicht abhängige Frau erlebt. Sie sei psychisch gesund und voll schuldfähig. Saß bezieht sich in seinem Gutachten unter anderem auf ihren Konflikt mit ihren Altverteidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm. Zschäpe wisse sich durchaus durchzusetzen, so Saß. Bauer ging darauf nicht ein.

Anders als Bauer hat Saß gut dreieinhalb Jahre Prozess mit Hunderten Zeugenaussagen erlebt und Tausende Aktenseiten studiert. Anders als Bauer hat Saß allerdings nicht mit Zschäpe sprechen können. Saß hat Schlüsse aus seinen Beobachtungen ihres Verhaltens vor Gericht gezogen - und dieses Verhalten, so sieht es Bauer, "fehlinterpretiert".

Bauer erwähnte belastende Aussagen an diesem Tag vor Gericht mit keinem Wort. Etwa Zschäpes Cousin, mit dem sie aufgewachsen ist, und der über sie sagte: "Sie hatte die Jungs im Griff." Mit "Jungs" meinte er Mundlos und Böhnhardt. Oder die Aussage des Mitangeklagten Holger G., der Zschäpe gut kennt, und sagte, sie sei "kein Typ, der sich unterordnen würde". Bauer bezog sich stattdessen in seinem Gutachten auf eine Handvoll Zeugenaussagen, die ihm relevant erschienen - und seine Diagnose stützten.

Mit Bauers Hilfe wollen ihre Verteidiger Zschäpe die Höchststrafe ersparen

Am 18. Mai muss Bauer nun wiederkommen. Dann muss er sich den Fragen des Gerichts und der anderen Prozessbeteiligten stellen. Um sich auf die Fragen vorzubereiten, hat das Gericht die nächsten vier Verhandlungstage abgesagt.

Am 16. Mai geht es dann zunächst mit einem anderen Psychiater weiter. Psychiater Pedro Faustmann hatte das Gutachten von Saß mit Kritik an dessen wissenschaftlichem Vorgehen angegriffen. Faustmann muss sich übernächste Woche - noch vor Bauer - den Fragen des Gerichts stellen.

Zschäpe ist unter anderem wegen Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung und Mittäterschaft an zehn Morden, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihr eine lebenslange Freiheitsstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Ihre Verteidiger wollen ihr mithilfe Bauers die Höchststrafe ersparen. Sie hoffen auf einen Strafrabatt wegen verminderter Schuldfähigkeit.

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