NSU-Prozess:Neue Strategie

NSU-Prozess: Die abhängige Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Zschäpe aber agiert selbstbewusst.

Die abhängige Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Zschäpe aber agiert selbstbewusst.

(Foto: Michaela Rehle/AFP)

Beate Zschäpe soll an einer Persönlichkeitsstörung gelitten haben - und damit nur vermindert schuldfähig gewesen sein.

Von A. Ramelsberger, W. Ramm

Überraschende Wende in der Verteidigungsstrategie von Beate Zschäpe. Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, der eine lebenslange Strafe und möglicherweise auch Sicherungsverwahrung droht, will zum Zeitpunkt der NSU-Verbrechen nur vermindert schuldfähig gewesen sein. Angeblich soll die mutmaßliche NSU-Terroristin an einer schweren Persönlichkeitsstörung gelitten haben, die sie daran gehindert habe, das Unrecht der Taten ihrer beiden Gefährten einzusehen oder Konsequenzen daraus zu ziehen und sich von ihnen zu lösen. Zu diesem Ergebnis kommt laut den Verteidigern Hermann Borchert und Mathias Grasel der von ihnen beauftragte Psychiater Joachim Bauer.

Sollte das Gericht dieser Einschätzung folgen, würde das bedeuten, dass Zschäpe mit einem Strafnachlass rechnen könnte. In diesem Fall könnte Zschäpe auch bei einer Verurteilung wegen Mittäterschaft an den zehn Morden des NSU die lebenslange Freiheitsstrafe erspart bleiben. Stattdessen könnte sie auf eine zeitlich befristete Haft hoffen.

Bisher hatte Zschäpe stets erklärt, sie habe erst im Nachhinein von den Morden ihrer Männer erfahren, sie abgelehnt und sich sogar deswegen mit ihren Gefährten angelegt. Nun soll sie vom Wohlwollen ihrer beiden Männer so abhängig gewesen sein, dass sie gar nicht fähig gewesen sei zu intervenieren.

Das widerspricht sich. Nach Angaben von Grasel hat der Freiburger Psychiater und Buchautor Bauer die Angeklagte an vier Tagen im Februar und März in der Haftanstalt besucht und mit ihr insgesamt zwölf Stunden lang geredet. Bauer will Hinweise darauf gefunden haben, dass Zschäpe eine "dependente Persönlichkeitsstörung" hat, was sich auch darin zeige, dass sie von ihrem Freund Böhnhardt fortgesetzt schwer körperlich misshandelt worden sei und ihn dennoch nicht verlassen habe. Juristisch wäre dies als "schwere andere seelische Abartigkeit" zu werten. Personen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung verlassen sich bei Lebensentscheidungen passiv auf andere Menschen. Die Störung ist gekennzeichnet durch große Trennungsangst und ein Gefühl der Hilflosigkeit. Einen hilflosen Eindruck aber macht Zschäpe keineswegs. Sie agiert vor Gericht sehr selbstbewusst und eigenständig.

Opferanwältin Doris Dierbach reagierte prompt. Der Antrag, ein Gutachten von Bauer einzuholen, sei abzulehnen, "weil das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist". Tatsächlich ist der nicht von der Verteidigung, sondern vom Gericht bestellte Psychiater Henning Saß in seinem Gutachten im Februar zu dem Ergebnis gekommen, dass Zschäpe keine schwache, sondern eine kontrollierte und selbstbewusste Frau ist, die sich zu behaupten weiß. Empathie hat er bei ihr kaum erkannt. Saß trug in seinem Gutachten auch vor, dass Zschäpe durchaus über auffällige Persönlichkeitszüge verfüge, jedoch "das Ausmaß einer sogenannten ,schweren anderen seelischen Abartigkeit' nicht erreicht" werde und ihre Schuldfähigkeit nicht infrage stehe.

Bauer sei noch nicht einmal forensischer Psychiater, sagte Dierbach vor Gericht. Von dem bald vier Jahre andauernden Prozess habe er - anders als Saß - nichts mitbekommen. "Herr Bauer war hier nicht anwesend", sagte Dierbach: "Was auch immer Frau Zschäpe ihm erzählt haben mag, kann er nicht in Relation setzen zu dem Ergebnis der Hauptverhandlung." Alles, was Bauer leisten könne, sei wiederzugeben, was Zschäpe ihm erzählt habe.

Genau dies könnte zum Eigentor der Verteidigung werden. Denn Zschäpe hatte es konsequent abgelehnt, mit dem Gerichtspsychiater Saß zu reden. Der konnte sich nur auf seine Beobachtungen im Prozess stützen. Nun könnten ihm die Aussagen Zschäpes im Gespräch mit Bauer das liefern, was ihm noch fehlte. Bauer hat ein 48-seitiges Gutachten erstellt, das er vor Gericht vortragen will - möglicherweise schon am nächsten Donnerstag. Fraglich, ob seine Erkenntnisse an Saß' Ergebnis etwas ändern werden: Der hält Zschäpe noch heute für gefährlich.

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