Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess in München:Warum die Terrorzelle so lange unbehelligt blieb

Er hörte viel. Und er heftete viel ab: Im NSU-Prozess sagt ein V-Mann-Führer aus. Offenbar kam es ihm vor allem darauf an, Vermerke zu schreiben. Hätten er und seine Kollegen vom Verfassungsschutz reagiert, sie hätten wohl zehn Morde verhindern können.

Aus dem Gericht berichtet Annette Ramelsberger

Wer verstehen will, warum die Terrorzelle NSU 13 Jahre lang unbehelligt morden konnte und nicht entdeckt wurde, hat an diesem Tag vor dem Oberlandesgericht in München reichlich Gelegenheit zu Erkenntnisgewinn. Selten konnte man so klar nachvollziehen, wie egal es Verfassungsschützern und Polizei war, ob sie der drei untergetauchten Rechtsradikalen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt habhaft werden. Offenbar kam es nur darauf an, die behördeninternen Aktenschränke mit Vermerken zu füllen.

An diesem Dienstag tritt der pensionierte Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes Norbert Wießner auf, der die wichtigste Quelle des Verfassungsschutzes in der rechten Szene geführt hatte, Tino Brandt. Der Beamte war sozusagen das Ohr des Staates. Er hörte viel. Und er heftete viel ab.

Ein grauer Mann im grauen Anzug, so ungerührt, dass man meint, er rede über Steuererklärungen, nicht über Staatsversagen. Richter Manfred Götzl hat ihn schon einmal befragt, nun muss der Mann erneut vor Gericht erscheinen. Denn der Verfassungsschutz war im Frühjahr 1999 ganz nah dran an den dreien vom NSU - und hätten Wießner und seine Kollegen reagiert, dann hätten sie wohl zehn Morde verhindern können.

Es geschah: nichts

Es geht um ein Telefonat. Der V-Mann Tino Brandt hat es mit Uwe Böhnhardt geführt, am 8. März 1999. Und der Verfassungsschutz hatte alle Zeit der Welt, sich darauf vorzubereiten. Fünfmal kündigte der NSU dieses Gespräch an, erst beim sechsten Mal kam es zustande. Der V-Mann konnte sich die Telefonzelle, in der der NSU ihn anrufen wollte, sogar selbst aussuchen.

Tino Brandt erzählte seinem V-Mann-Führer auch, wo er angerufen werden sollte. Doch es geschah: nichts. Keine Fangschaltung. Offensichtlich wurden in Chemnitz, wo der NSU vermutet wurde, drei Telefonzellen observiert, doch davon wusste der V-Mann-Führer nichts. Er sei nur für die Erkenntnisgewinnung zuständig gewesen, nicht dafür, was man daraus machte, sagt der Mann vor Gericht. Er verzieht keine Miene.

Der pensionierte Oberamtsrat traf sich jede Woche mit seinem V-Mann, man saß gemütlich zusammen, aß, trank, und Brandt lieferte eine Menge Informationen zu Skinheadkonzerten und Streitereien in der Szene. Dinge, die man gut in dicke Akten packen konnte. Aber über die wirklich wichtigen Dinge sprachen der V-Mann und sein Führer nicht.

Als Brandt nach dem Telefongespräch mit Böhnhardt berichtete, er wisse nun, dass die drei ihr Aussehen verändert haben, da fragte der Verfassungsschützer noch nicht einmal nach, wie sie denn jetzt aussähen. Wießner wunderte sich nur, dass Brandt Böhnhardt auf Observationsfotos nicht erkennen wollte - trotz großer Ähnlichkeit. Später stellte sich heraus, dass auf diesen Fotos wirklich Böhnhardt zu sehen war. Der Verfassungsschutz hatte 1999 also den richtigen Mann observiert, erkannte aber nicht, wer es war. Weil man der Quelle Brandt zu sehr glaubte, die Böhnhardt möglicherweise deckte.

Gleichzeitig gab der Verfassungsschützer zu, dass man Brandt in der rechten Szene noch vertrauenswürdiger machen wollte, um mehr Informationen über die drei zu bekommen. Also lief der Mann mit 500 Mark Steuergeld beim Mitangeklagten Ralf Wohlleben auf, der Spinne im rechten Netz, und erklärte, das sei eine Spende für die drei. Wohlleben habe sich erfreut gezeigt über die schnelle Spende, weil der NSU das dringend brauchen könnte, so steht es in den Vermerken des Verfassungsschutzes. Und so bestätigt es auch Norbert Wießner. Doch mehr Informationen bekam der Verfassungsschutz so nicht.

Dabei hatte er schon alles, was er brauchte, damit der NSU festgenommen werden konnte: Brandt hatte seinem V-Mann-Führer berichtet, dass nun der junge Rechtsradikale Carsten S. der Kontaktmann zu dem Trio sei. Und Carsten S., der nun ebenfalls auf der Anklagebank sitzt, überbrachte den dreien kurz darauf auch die Tatwaffe für neun der zehn Morde.

Man hätte nur Carsten S. observieren müssen, er hätte die Ermittler direkt zum NSU geführt. Noch bevor der erste Mord geschehen war.

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