Hätte der Tod ihres Mannes verhindert werden können? Die Frage treibt die Witwe von Theodoros Boulgarides um. Der Grieche wurde am 15. Juni 2005 mitten in München vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erschossen. Drei Kugeln trafen ihn in den Kopf, zwei Wochen zuvor hatte er seinen Schlüsseldienst eröffnet. Seine Witwe wird beim NSU-Prozess, der in weniger als 24 Stunden in München beginnen soll, eine von fast 80 Nebenklägern sein. Und sie hat viele Fragen. Das macht ihre Anwältin Angelika Lex an diesem Sonntag in München deutlich.
"Es geht uns nicht darum, in möglichst kurzer Zeit eine maximale Strafe für die Angeklagten zu erreichen. Sondern uns geht es allen um eine möglichst umfassende Aufklärung", sagt Lex. Ihre Mandantin wolle wissen, warum ihr Mann Opfer des rechten Terrors wurde. Wie er ausgewählt wurde, wie ausgespäht und welche lokalen Netzwerke Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei dem Mord unterstützt haben könnten. Und sie wolle wissen, was die Behörden - insbesondere der Verfassungsschutz - von diesem Mord wusste.
Die Erwartungen der Nebenkläger an diesen Prozess sind gewaltig. Die Vorstellung, der NSU hätte nur aus drei besonders gefährlichen Rechtsextremisten bestanden, sei schwer nachzuvollziehen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von sieben Nebenklage-Anwälten, die an diesem Sonntag in München eine Pressekonferenz geben.
Gab es weitere Unterstützer?
In dem Verfahren gegen die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe sowie vier mögliche Helfer der Gruppe müsse auch geklärt werden, welche weiteren Unterstützer es gab, fordern sie. Mehr als 100 Personen stünden im Verdacht. Nahe liege, dass der NSU auch durch V-Leute, verdeckte Ermittler und andere Mitarbeiter der Nachrichtendienste - direkt oder indirekt - unterstützt, gebilligt oder was auch immer worden sei.
Zudem hätten sich die Angehörigen nie als Opfer fühlen dürfen. Jahrelang seien sie selbst unter Generalverdacht gestanden, während Hinweise, dass es sich um eine rechtsextreme Anschlagserie handeln könnte, ignorierten worden seien. Anwältin Lex spricht von einem erheblichen Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Ein Vertrauen, das das Münchner Gericht beim NSU-Prozess wieder aufbauen könnte. Das sei "einmalige Chance". Man wünsche sich von diesem Verfahren nicht nur eine Verurteilung der Angeklagten, sondern auch eine gesellschaftliche Diskussion, die rechte Gewalt in Deutschland ernst nehme, sagen die Anwälte.
Doch kann das Münchner Gericht diesen Erwartungen wirklich gerecht werden?
Viel ist schon schiefgegangen. Mehr als 13 Jahre lang konnten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe mitten in Deutschland unter falschen Identitäten leben, und - nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen - zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und zahlreiche Banküberfälle verüben. Nun soll in München mit Wochen Verzögerung - bei der Vergabe der Presseplätze hatte es zahlreiche Pannen gegeben - endlich der Prozess beginnen. Das Oberlandesgericht (OLG) will sich auf das konzentrieren, was Gerichtspräsident Karl Huber "die Kernaufgabe" nennt. "Eine rechtsstaatlich ordnungsgemäße, revisionssichere Strafverhandlung durchzuführen und die strafrechtliche Schuld der Angeklagten zu überprüfen." Das Gericht sei kein weiterer Untersuchungsausschuss.
Straffes Programm und viele Fragen
Rechtsextreme Anschläge in Deutschland:Wenn Neonazis zuschlagen
Zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle: Die Blutspur des NSU zog sich quer durch Deutschland. Die Verbrechen der 2011 aufgeflogenen Terrorzelle sind beispiellos, doch rechtsextreme Übergriffe und Anschläge gab es in Deutschland schon viele.
Zudem ist der Zeitplan eng: Schon die Anklageschrift hat 488 Seiten, etwa 600 Zeugen werden darin benannt. Die mehr als 280.000 Seiten Ermittlungsakten füllen gut 600 Ordner. Der Senat fährt ein straffes Programm: Teilweise sollen die Zeugen im Stundentakt auftreten. Doch sowohl die Anwälte der fünf Angeklagten als auch die fast 80 Nebenkläger können Anträge stellen. Und dass die Nebenkläger viele Fragen stellen wollen, das machen sie an diesem Sonntag deutlich.
Man wolle mehr herausfinden, als in der Anklageschrift steht. Und das könnte auch zu Konflikten mit dem Gericht führen, sagt Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer. Man wolle das Umfeld des NSU zum Thema machen. "Man kann uns diese Fragen nicht verbieten. Und wir werden sie stellen", sagt er. "Es ist viel mehr möglich als manche glauben", erklärt Anwalt Stephan Lucas. Und: "Das Urteil muss sich auch richtig anfühlen."
Doch bis es zu diesem Urteil kommt, können Jahre vergehen. Zunächst muss der Vorsitzende Richter am Montagmorgen die Anwesenheit der Prozessbeteiligten feststellen. Und das kann einige Zeit in Anspruch nehmen - auch weil es fast 80 Nebenkläger gibt. Erst dann wird überhaupt die Zusammenfassung der Anklageschrift verlesen. Möglich ist, dass es dazu am ersten Verhandlungstag noch gar nicht kommt. Erwartet wird "ein Antragsgewitter", wie es der Anwalt Scharmer am Sonntag ausdrückt.