Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Ex-Verfassungsschützer mit Erinnerungslücken

Ein früherer Beamter des Verfassungsschutzes ist am Tag eines mutmaßlichen NSU-Mordes am Tatort, kann sich daran aber nicht erinnern. Der Richter zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Zeugen. Nebenkläger und die Familie des Opfers glauben ohnehin, dass der Mann mehr weiß, als er zugibt.

Aus dem Gericht berichtet Tanjev Schultz

Der Zeuge stottert herum. Im NSU-Prozess bringt Richter Manfred Götzl ihn immer wieder in Bedrängnis. Andreas T. kann nicht plausibel erklären, warum er sich so vertan hat. Der Beamte, der damals für den Verfassungsschutz arbeitete, war am Tatort, als im Jahr 2006 in Kassel der 21-jährige Halit Yozgat in einem Internetcafé ermordet wurde.

Andreas T. besuchte dort ein Online-Flirtforum. Er beteuert immer wieder, von dem Mord, der dem NSU zugeschrieben wird, nichts mitbekommen zu haben. Er meldete sich auch nicht bei der Polizei als Zeuge. Angeblich dachte er zunächst, gar nicht zum Zeitpunkt der Tat, sondern einen Tag zuvor in dem Laden gewesen zu sein. Andreas T. hat von dem Verbrechen aber bereits drei Tage nach dem Mord in der Zeitung gelesen - und der Richter nimmt ihm einfach nicht ab, dass T. die Tage so durcheinander bringen konnte: "Es tut mir leid, ich kann das nicht nachvollziehen."

In gewundenen Sätzen versucht der Zeuge, sich zu rechtfertigen. Der Erfolg ist überschaubar. "Ich wäre froh, wenn es mir gelungen wäre, eine Erklärung zu finden, wie ich so dumm sein konnte." Er antwortet auf hartnäckige Fragen kleinlaut, aber oft ausweichend. Andreas T. sagt: Bei der Suche nach den Gedanken, die ihn damals zu seinem Irrtum geführt hätten, "laufe ich immer wieder gegen eine Wand".

Viele Nebenklage-Vertreter haben den Verdacht, Andreas T. könnte von dem Mord mehr wissen, als er zugibt. Und der Richter hat sich offensichtlich vorgenommen, diesen Zeugen so hart wie möglich zu befragen. "Ich verstehe nicht, was in Ihrem Kopf war", sagt Götzl. Man könne bezweifeln, "dass Sie uns hier mit der Wahrheit bedienen". Energisch ist der Richter zuvor allerdings Spekulationen entgegengetreten, es könnte eine staatliche Beteiligung an den NSU-Taten geben: Solche Thesen "verlassen das Reich der Spekulation nicht."

Götzl lehnte erneut das hartnäckig vorgetragene Begehren von Nebenklage-Anwälten ab, sämtliche Akten über Andreas T. zum Verfahren beizuziehen. Die Anwälte könnten die Dokumente ja in Karlsruhe beim Generalbundesanwalt einsehen. Den Vorwurf von Nebenklägern, das Gericht sei an der vollständigen Aufklärung des Kasseler Mordes nicht interessiert, nennt Götzl "gewagt". Die scharfe Art, in der er anschließend Andreas T. befragt, soll den vielen Anwälten wohl auch beweisen: Götzl ist hier der Chefaufklärer.

Die Nebenkläger hatten zu Beginn des 63. Verhandlungstages verlangt, die Zeugenvernehmung zu verschieben und zunächst sämtliche Akten zu bekommen. Sie beklagen eine Behinderung ihrer Arbeit, wenn sie nur in Karlsruhe die umfangreichen Unterlagen über Andreas T. studieren und sich lediglich Notizen machen können. Alexander Kienzle, der die Familie Yozgat vertritt, sagte, das Gericht riskiere einen Revisionsgrund, wenn es in dem Aktenstreit nicht einlenke. Wegen der fehlenden Transparenz könnten zudem "interessierte Kreise" Legenden über die Mordserie verbreiten - eine Anspielung darauf, dass den Neonazis der Verdacht gegen Andreas T. und den Verfassungsschutz wie gerufen kommt, um von sich selbst abzulenken und den NSU als angebliches Konstrukt des Staates darzustellen.

Die Bundesanwaltschaft zeigte sich unnachgiebig. Sie argumentiert, die Akten stünden vollständig zur Verfügung. Dass sie in Karlsruhe bleiben müssten, begründen die Bundesanwälte mit dem Persönlichkeitsschutz. Die Akten enthalten unter anderem Protokolle von Telefonüberwachungen, die auch Angehörige des Zeugen betrafen. Nach einer Verhandlungspause zogen die Nebenkläger noch einmal alle Register: Ismail Yozgat, der emotional auftretende Vater des Opfers, ergreift das Wort und sagt auf Türkisch: "Mein Sohn hat sein Leben in meinem Armen verloren. Was ist mit Ihnen los, dass Sie in Ihrem eigenen Namen Entscheidungen treffen? Ich möchte dass die Akten, die meinen Sohn betreffen, alle ans Tageslicht kommen."

Dann spricht auch noch die Mutter, Ayse Yozgat. Ihr Leben nach dem Tod des Sohnes sei "zu vergleichen mit dem eines Toten". Die Familie wolle, dass alle Akten offengelegt werden, die Mutter appelliert an den Richter: "Bitte überlegen Sie es sich noch einmal!" Aber Götzl ließ sich nicht erweichen.

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SZ vom 04.12.2013/dmo
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