NSU-Prozess:"Es wäre mir lieber, ich wäre tot"

13 Jahre nach dem Anschlag auf ihren Laden in Köln spricht die iranisch-stämmige Familie vor Gericht. Die Mutter wünscht sich bis heute, der Sprengsatz hätte sie anstelle ihres Kindes getroffen. Vater und Tochter halten es für möglich, dass Holger G. die Dose mit der Bombe platziert hat.

Aus dem Gericht von Annette Ramelsberger

Der Mann hat wochenlang um das Leben seiner Tochter gebangt. Er hat erlebt, dass sie sich monatelang nicht mehr aus dem Haus traute, weil ihr Gesicht von einer Bombe des rechtsradikalen NSU schwer verletzt war. Er hat erlebt, wie sie sich langsam ins Leben zurückkämpfte und doch jedes Mal Weinkrämpfe bekam, wenn sie sich im Spiegel sah. Und dann sagt dieser Mann: "Ich bin im Nachhinein sehr froh, dass dieser Schaden nicht andere, unbeteiligte Menschen betroffen hat, sondern nur uns."

Dem Mann geht es um die deutschen Schulkinder, die immer bei ihm im Laden waren, kurz vor Schulbeginn um acht Uhr früh. "Ich kann nur von Glück sprechen, dass die Explosion stattgefunden hat, bevor die Schulkinder zu uns kamen und so nicht mehr Personen zu Schaden gekommen sind. Unsere Kunden waren in der Regel Deutsche."

Der Mann, der an diesem Tag als Zeuge im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München befragt wird, ist der Vater jener jungen Frau, die am 19. Januar 2001 eine Christstollendose öffnete, die ein freundlicher Mann in ihrem Lebensmittelladen stehen gelassen hatte. Und als dieser Mann nicht wiederkam, stellte die Familie den Korb mit der Dose in den Aufenthaltsraum, damit er nicht stört. Wochen später schaute das junge Mädchen hinein - und die Bombe explodierte.

Am Mittwoch hatte die junge Frau berichtet, wie es ihr danach ergangen war. Wie sie sechs Wochen im Koma lag, wie sie immer wieder operiert werden musste, wie sie gelernt hat, mit den Narben im Gesicht zu leben. Und wie sie es dennoch schaffte, ihr Abitur nachzumachen, zu studieren. Wie sie nun als Ärztin arbeitet. Und wie sehr ihre Familie ihr dabei geholfen hat.

Zynisches Bekennervideo spricht von "Bömbchen"

Und da sitzt nun ihr Vater, vor 30 Jahren ist er aus Iran nach Deutschland geflohen. All seinen vier Kindern hat er eine Hochschulausbildung finanziert. Morgens ist er um drei Uhr aufgestanden, um zum Großmarkt zu fahren. Abends um 22, 23 Uhr kam er zurück aus seinem Laden. "Wir sind als politische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen", sagt er nun. "Um Schutz zu suchen, um in Frieden und Freiheit zu leben." Das ist der Familie fast 20 Jahre lang gelungen, dann entdeckte sie der rechtsradikale NSU. In einer kleinen Seitenstraße in Köln, in einem unscheinbaren kleinen Laden, an dem sogar ein deutscher Name stand. Von da an war nichts mehr wie es war.

Die Familie war beliebt bei Nachbarn und Kunden. Manche ließen ihre Haustürschlüssel da, damit der Vater ihnen die Ware liefern konnte. "Wir hatten mit niemandem Probleme in Deutschland, wir haben nach dem Ereignis auch viel Anteilnahme von den Anwohnern erfahren. Sie haben uns nahegelegt, dass wir unsere Arbeit fortsetzen", sagt der Vater.

Das "Ereignis", das war die Bombenexplosion am 19. Januar 2001. Jene Explosion, die im Bekennervideo des NSU vorkommt und die dort zynisch als "Bömbchen" bezeichnet wird. Der Laden war danach zerstört, Feuer war ausgebrochen, die Scheiben zertrümmert, die Tochter schwer verletzt im Krankenhaus. Und die Mutter brachte es nicht mehr über sich, an diesen Ort zurückzukehren. "Ich wollte weitermachen, aber meine Frau war nicht in der Lage, den Laden oder die Gegend zu betreten", erzählt der Zeuge.

Wieso die Familie bis heute nicht zur Ruhe kommt

Der Vater beschrieb den Täter als 1,80 Meter großen deutschen Mann mit halblangem blonden Haar. Bei der Vorlage von Lichtbildern blieb er lange an einem Bild des Angeklagten Holger G. hängen. So ähnlich habe der Mann ausgesehen, der den Korb stehen ließ, sagte der Vater, nur schmaler. Auch seine jüngere Tochter, die damals im Laden war, sagte, der Mann sei ein Deutscher gewesen und habe Deutsch ohne Akzent gesprochen. Sie hält es theoretisch für möglich, dass es Holger G. war. Sicher ist sie sich nicht.

"Es wäre mir lieber, ich wäre tot und meinem Kind wäre nichts passiert"

Holger G. war damals noch aktiv in der rechten Szene, er hält sich bisher mit Äußerungen sehr zurück. Die kleine Tochter war damals ein Teenager und erinnert sich, dass der Mann sehr nett war. "Was sarkastisch ist", sagt sie. "Ich war damals 14, ein Kind. Er musste davon ausgehen, dass ich als Kind neugierig war. Ein Gewissen wird nicht vorhanden gewesen sein, wenn man keine Gnade hat, ein Kind umbringen zu wollen." Die Bombe traf dann ihre 19 Jahre alte Schwester.

Die Mutter der Familie hat neben der schwerverletzten Tochter wohl am meisten gelitten. Sie ist eine aparte Frau von 58 Jahren, sie hat Anglistik studiert und arbeitet nun als Buchhalterin. "Es wäre mir lieber, ich wäre tot und meinem Kind wäre nichts passiert`", sagt sie. Noch immer mache sie sich Vorwürfe, sie hätte ihre Tochter schützen müssen.

Denn ihr kamen dieser Korb und der plötzlich verschwundene Besitzer eigenartig vor. Sie wollte schon die Polizei anrufen, weil sie dachte, dem Mann sei etwas passiert. Sie tat es nicht, weil immer wieder Kundschaft kam. Dann explodierte die Christstollendose. Und sie sah ihre Tochter erst im Krankenhaus wieder.

"Was ich da gesehen habe, war ein fremdes Gesicht", sagt die Mutter. "Ich habe sie gar nicht mehr erkannt. Sie hatte fast keine Haare mehr. Sowas habe ich noch nie im Leben gesehen, ich konnte sie nicht wieder erkennen." Sie seufzt und sagt: "Das ganze Universum lag in diesem Bett im Krankenhaus."

Erst später hatte sie die Energie, zu erkennen, was noch geschehen war. Ihre wirtschaftliche Existenz war zerstört. "Herzlichen Glückwunsch, Sie haben es geschafft", sagt sie in Richtung der Angeklagten. "Wir haben unser Einkommen verloren, unser Leben ist zerstört. Man hat jede Lebensfreude von mir weg genommen." Aber ihre Kinder haben studiert, die Ältere ist Ärztin geworden, die jüngste studiert Ingenieurswissenschaften. Und auf der Anklagebank sitzen Männer, die ihren Unterhalt seit Jahren nicht selbst erwirtschaften, sondern vom Staat bekommen. Und da sitzt eine Frau, deren Leben und das ihrer Freunde durch Banküberfälle finanziert wurde.

Familie verdächtigte zunächst keine Rechtsradikalen

Die Mutter sagt, sie habe nach der Explosion nicht geglaubt, dass Rechtsradikale die Täter waren. Denn 99 Prozent ihrer Kunden seien Deutsche gewesen, Anwälte, Ärzte, Ober- und Mittelklasse. Auch viele Schulkinder und schwangere Frauen. "Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Deutsche Deutsche umbringen", sagt die Mutter. "Ein Ermittler hat mir gesagt: Sie wissen nicht, wozu diese Leute fähig sind. Damals wusste ich auch noch nicht, dass es in München das Oktoberfestattentat gegeben hat. 1980 hatte ein Rechtsradikaler dort eine Bombe gezündet, 13 Menschen starben, 200 wurden verletzt. Die rechtsradikalen Hintermänner wurden nie ermittelt."

Was für die Familie bleibt? Eine ständige Unruhe, ein zerstörtes Grundvertrauen. "Der Gedanke ist immer noch da: Da ist jemand, der beobachtet uns", sagt die Mutter. "Womit haben wir es zu tun?"

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