Die Erschütterung bei den Überlebenden des Anschlags ist noch heute, 13 Jahre später, zu spüren. Am 9. Juni 2004 explodierte die Nagelbombe der NSU-Terroristen vor einem Friseurgeschäft in der Kölner Keupstraße. Mehr als 20 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Zwei von ihnen sprechen an diesem Dienstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Ihr Plädoyer ist eine Anklage gegen die Bundesanwaltschaft, gegen die Ermittler, die Politik, die Medien, den Staat.
"Ich hatte Glück", sagt Mohamed A. vor Gericht: "Ein Nagel schoss knapp an meinem Kopf vorbei in ein Regenrohr. Durch die Wirkung der Bombe bin ich zu Boden gefallen und mein Trommelfell ist geplatzt." Die Polizei habe ihn damals nicht als Geschädigten vernommen. Von sich aus habe er sich auch nicht bei den Behörden gemeldet. Er fürchtete, von der Polizei als Täter verdächtigt zu werden. Auch zum Arzt ging er nicht, weil er Angst hatte, dann in den Fokus falscher Verdächtigungen zu geraten. Erst Jahre später, als durch den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2011 die Existenz des NSU bekannt wurde und sich herausstellte, dass sie für den Anschlag verantwortlich waren, ließ er sich medizinisch behandeln. "Da war es natürlich zu spät", sagt A.
"Mit dem Anschlag war der Angriff nicht zu Ende", sagt A., der heute ein Café in der Keupstraße betreibt. Er schaut zu den Richtern. "Dieses Gericht muss die rassistischen Morde als solche bewerten, dabei muss es auch das Verhalten der Polizei und des Verfassungsschutzes seinem Urteil zugrunde legen", fordert A. "Dazu gehören die Missbilligung, die Übergriffe, die wir und die anderen Opfer der Neonazis durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden und in deren Folge durch die Medien erleiden mussten." Über Jahre hatte die Polizei die Täter im Umfeld der Keupstraße und unter den Opfern selbst gesucht. Unter Neonazis suchte sie nicht.
Die Verdächtigung durch die Polizisten "ruinierte mein Leben"
Der Bundesanwaltschaft wirft Café-Betreiber A. vor, "immer noch nicht" anzuerkennen, "was wir Opfer, wir Migranten - mit welchem Pass auch immer - nach den Anschlägen der Neonazis durch die staatlichen Organe, durch die Polizei, erleiden mussten". Er betont, dass für ihn nicht wichtig sei, wie lange die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten ins Gefängnis müssten, "entscheidend ist, die Hintergründe der Taten aufzuklären".
Der "psychische Druck" durch die Ermittlungen, der Verdacht, der jahrelang über der Keupstraße lag, "ruinierte mein Leben", sagt auch Arif S. Das Gehör des Einzelhändlers ist durch den Anschlag dauerhaft geschädigt worden. Er leidet noch immer unter massiven Ängsten und Schlafstörungen.
Er berichtet, dass er der Polizei schon früh gesagt habe, dass es Neonazis gewesen sein müssen, die die Bombe gezündet haben. Nach seiner Erinnerung habe der Polizist das nicht hören wollen. Der Beamte habe einen Finger auf seine Lippen gelegt und ihm so bedeutet zu schweigen.
Ein "eindrückliches Beispiel von institutionellem Rassismus"
Stephan Kuhn, der Anwalt eines weiteren Opfers, sagt in seinem Plädoyer: "Die Art und Weise der Ermittlungen in der Keupstraße stellt ein eindrückliches Beispiel von institutionellem Rassismus dar." Weiter sagt er: "Für die erste Bombe trägt die Verantwortung der NSU, für die zweite trägt sie der deutsche Staat." Die Kriminalisierung der Opfer, der jahrelange falsche Verdacht, die diffamierenden Medienberichte seien für die Menschen in der Keupstraße "die Bombe nach der Bombe" gewesen.
Kuhns Fazit ist bitter: "Die Tat war aus Sicht der Täter ein Erfolg, weil die Leiden der Geschädigten zeigen, dass bei ihnen allen die Botschaft angekommen ist, die die Täter durch die Tat verkündeten." Eine Botschaft, die das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen in einer sogenannten Operativen Fallanalyse laut Kuhn treffend formuliert hat. Sie lautet: "Wir zünden die Bombe mitten in eurem Wohnzimmer - Ihr werdet euch dort nie mehr so wohl, so sicher wie früher fühlen und besorgt sein, dass das noch mal passiert."