Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Braunes Puzzle auf brauner Pappe

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Die Aussagen des Angeklagten Wohlleben erleichtern die Ordnung eines sehr komplexen Geschehens. Und sie könnten dabei helfen, die NPD zu verbieten.

Kommentar von Heribert Prantl

Ein Strafprozess kann noch so genau und umfassend vorbereitet sein. Entscheidend sind nicht die Akten, entscheidend sind nicht die Beweismittel, die dort aufgeführt sind; das alles zählt nichts im deutschen Strafrecht. Es zählt einzig und allein das, was in der mündlichen Verhandlung mündlich vorgetragen wird - vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten.

Das Gesetz nennt das den "Inbegriff" der Verhandlung: "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung" - so lautet einer der zentralen Paragrafen der Strafprozessordnung. Dieser Inbegriff des NSU-Verfahrens ist soeben im Begriff, sich zu verändern: Die Hauptangeklagten reden, die Mauer des Schweigens bricht nach zweieinhalb Jahren.

Die Aussagen von Ralf Wohlleben sind wichtig für das NPD-Verbot

Die Angeklagten grenzen sich voneinander ab, schieben sich gegenseitig Schuld zu. Das ermöglicht dem Gericht Einblicke, die es erlauben, die bisherigen Beweise richtig zu sortieren und zu gewichten. Ein Strafprozess, zumal ein so langer und so schwieriger, hat seine eigene Dynamik. Einmal gewählte Prozessstrategien der Angeklagten, etwa die des Schweigens oder kompletten Leugnens, lassen sich selten durchhalten. Spätestens dann, wenn sich die Schlinge zuzieht, wird alles anders.

Das ist die derzeitige Situation im NSU-Prozess: Beate Zschäpe muss fürchten, als zehnfache Mörderin verurteilt zu werden, obwohl sie nicht an den Tatorten war, sondern im Hintergrund. Und Ralf Wohlleben muss mit der Verurteilung wegen Beihilfe zu zahlreichen Mordtaten rechnen. Die Angeklagten äußern sich, weil sie retten wollen, was nicht mehr zu retten ist.

Weil Wohlleben redet, wird Zschäpe ihre Strategie, sich nur schriftlich zu äußern, schwerlich durchhalten können. Sie wird, eher über kurz als über lang, auf Wohlleben mündlich reagieren. Das ist Interaktion im Strafprozess. Es wird den Angeklagten freilich, so wie es aussieht, nicht gelingen, sich zu entlasten. Aber ihre neuen Aussagen geben den bisherigen Beweismitteln Farbe und erleichtern die Ordnung eines sehr komplexen Puzzles.

Die jüngsten Aussagen des Angeklagten Wohlleben tun noch ein Zusätzliches: Seine Darlegung der braunen Szene in Deutschland ist die Pappe, auf der man die Puzzlesteine der Gewalttaten auslegen und zusammenlegen kann - obwohl der Angeklagte heftig versucht, sich von Gewalt zu distanzieren. Er hätte das früher tun sollen.

Es könnte sich herausstellen, dass die Aussagen des Angeklagten Wohlleben im Münchner NSU-Prozess, in denen er nun also sein Leben als Neonazi schildert, noch in einem ganz anderen Verfahren eine Rolle spielen werden - im NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Wohlleben war nämlich NPD-Funktionär in Thüringen; und er war, so die NSU-Anklage, Waffenbeschaffer für den mörderischen NSU. Wohlleben steht also für die Verbindungen von NPD und NSU. Sein Verhältnis zur Gewalt sagt einiges aus über die Verhältnisse in der NPD.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2015
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