Henning Saß ist ein Gutachter nach dem Geschmack von Richter Manfred Götzl: sachlich, spröde, erfahren. Saß ist 72 Jahre alt, emeritierter Psychiatrieprofessor, ein zurückhaltender Typ. Gefühlsausbrüche sind dem gebürtigen Kieler fremd. Die ein oder andere Spitze kann er sich an diesem Tag aber nicht verkneifen.
Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ist ein Gutachterstreit über die Persönlichkeit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ausgebrochen. Der vom Gericht bestellte Sachverständige Saß geht bei ihr von psychopathischen Persönlichkeitszügen aus, die ihre Schuldfähigkeit jedoch nicht infrage stellen. Saß hält Zschäpe für voll schuldfähig und gefährlich. Am Dienstag hat er sein Gutachten gegen die Kritik zweier weiterer Psychiater verteidigt.
Der von den Verteidigern Mathias Grasel und Hermann Borchert aufgebotene Gutachter Joachim Bauer aus Freiburg zeichnete an früheren Verhandlungstagen ein gänzlich anderes Bild der Angeklagten. Bauer zufolge leidet die mutmaßliche NSU-Terroristin an einer schweren abhängigen Persönlichkeitsstörung mit massiver Trennungsangst, weswegen sie sich nicht aus den Fängen ihrer Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt lösen konnte. Zschäpe sei im Tatzeitraum der zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle daher nur vermindert schuldfähig gewesen. Anders als Saß hat Bauer persönlich mit Zschäpe gesprochen. Anders als Saß hat Bauer sie jedoch nicht an Hunderten Verhandlungstagen beobachtet.
"Vermutungen und Interpretationen"
Saß lässt sich von Bauers Analyse nicht beirren, auch nicht von der Kritik, die ein weiterer Gutachter, Pedro Faustmann aus Bochum, im Auftrag der Verteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm an seinem Gutachten geübt hat. Saß wischt dessen Kritik an seinem wissenschaftlichen Vorgehen einfach beiseite. Sein Fazit: "Auch bei nochmaliger kritischer Durcharbeitung ergeben sich keine Änderungen an den Einschätzungen in meinem Gutachten." Bei Bauer wird Saß deutlicher. Bauers Einschätzungen seien "offensichtlich nicht gestützt auf die speziellen Kenntnisse und Erfahrungen in der forensischen Psychiatrie". Die paar Zeugenaussagen, auf die sich Bauer bezogen hat, seien "stark selektiert". Aussagen, die seiner Diagnose widersprechen, habe Bauer einfach weggelassen - so die von Zschäpes Mutter, die ihre Tochter als selbstbewusst und durchsetzungsstark beschrieb. Bei Bauers Schlussfolgerungen handele es sich um "weitgehend spekulative, an bestimmte Vorannahmen gebundene Vermutungen und Interpretationen".
Borchert und Grasel nehmen den Rundumschlag schweigend hin. Vielleicht, weil Bauer sich zuletzt selbst diskreditiert hat. In einer Mail an die Welt hat er den NSU-Prozess mit einer "Hexenverbrennung" verglichen. Mehrere Nebenklagevertreter warfen ihm daraufhin vor, "jede professionelle Distanz verloren" zu haben, und stellten einen Befangenheitsantrag gegen ihn. Heer, Stahl und Sturm aber kämpfen. Es könne nicht angehen, dass Saß selbst über die Güte seines Gutachtens befinden dürfe, monieren sie. Doch Richter Götzl wirkt von Saß überzeugt. Fragen hat er keine.