Das geht ja gut los. Klaus-Dieter Fritsche, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, hat gerade zwanzig Minuten vor dem NSU-Untersuchungsausschuss geredet, da gibt es die erste Konfrontation mit den Parlamentariern. "Es gibt Grenzen dessen, was man hinnehmen muss", sagt der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD). Und dann wird das Publikum erst einmal ausgeschlossen, um in vertraulicher Runde weiter Tacheles zu reden.
Was Edathy und andere Ausschussmitglieder so aufgebracht hat: Fritsche nutzte sein Einführungsstatement nicht nur dafür, sein Bedauern darüber auszudrücken, dass die Sicherheitsbehörden die rechte Terrorzelle NSU jahrelang nicht entdeckt hatten. Er hob auch zu einem Vortrag darüber an, wie Parlament und Medien mit Akten umzugehen hätten und warum es keineswegs so sei, dass der Ausschuss alle Dokumente so ohne Weiteres erhalten dürfe. Er beklagte auch Durchstechereien an die Presse und warb eindringlich dafür, das V-Leute-System der Geheimdienste zu bewahren.
Irgendwann reichen Edathy die Belehrungen, er fährt Fritsche in die Parade und mahnt ihn dazu, zur Sache zu sprechen, für die Fritsche als Zeuge geladen wurde: zu den Einschätzungen über die Gefahren der rechtsradikalen Szene Ende der neunziger Jahre beispielsweise. Der Obmann der Grünen, Wolfgang Wieland, fragt Fritsche süffisant, ob ihm klar sei, dass er hier als Zeuge zum Untersuchungsgegenstand NSU aussagen soll - und nicht etwa allgemeine Staatsbürgerkunde betreiben müsste?
Fritsche weist das zurück, auch der ständige Vertreter des Innenministeriums im Ausschuss mischt sich ein. Da wird es dem Vorsitzenden Edathy endgültig zu bunt. Er bittet das verblüffte Publikum vor die Tür; es geht erst mal weiter im kleinen Kreis.
Löschung hat nichts mit Vertuschung zu tun
Nach zwanzig Minuten wird die öffentliche Sitzung fortgesetzt. Die Vernichtung von Akten, sagt Fritsche dann, sei ein normaler und notwendiger Vorgang. Bei großen Datenmengen, wie es sie im Bundesamt für Verfassungsschutz gebe, müsse man routinemäßig Daten löschen. "Festhalten möchte ich ganz grundsätzlich, dass die Löschung von Akten nichts mit Vertuschung zu tun hat, sondern mit Grundrechtsschutz."
Davon auszunehmen sei der Fall einer Schredder-Aktion am 11. November 2011, kurz nach Auffliegen des NSU. Der Fall habe ihn "fassungslos" gemacht, sagt Fritsche, und spricht von einem individuellen Fehlverhalten eines Referatsleiters, der den Ruf einer ganzen Behörde beschädigt habe. Was noch viel schlimmer sei: Die Angehörigen der Mordopfer hätten ja vermuten müssen, dass man da etwas verbergen wollte. Das sei jedoch nicht so gewesen, das sei mittlerweile "zweifelsfrei" erwiesen.
Zuvor hatten Ausschussmitglieder vor der Sitzung allerdings Unmut darüber geäußert, dass noch Hunderte weitere Akten seit November 2011 geschreddert wurden. Zu erwarten ist ein langer Tag, in dem Fritsche noch einiges zu sagen haben wird über seine jetzige und seine frühere Rolle bei der Bewertung des Rechtsextremismus. Der 59-Jährige war Vizepräsident im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), schließlich Abteilungsleiter im Kanzleramt. Er versteht es, kenntnisreich über Bedrohungslagen aller Art zu sprechen. Droht ihm jetzt selbst Unheil, weil er erwiesenermaßen in einem wirklich wichtigen Fall keinerlei Durchblick hatte?
Der Jurist, der das Parteibuch der CSU hat und dessen Förderer der frühere bayerische Innenminister Günther Beckstein war, hatte die Gefahren des rechten Terrorismus geringer eingeschätzt als sie waren. Die Mörder der braunen NSU haben in einem Zeitraum von sieben Jahren zehn Menschen hingerichtet. Streng vertrauliche Papiere und Korrespondenz zeigen, dass Fritsche keine Witterung für diese rechte Bedrohung besaß. Er hatte Pech, aber wie viel Pech ist Schuld?
Im Jahr 2003 sollte Fritsche, der damals noch Vize beim Nachrichtendienst war, eine andere Frage beantworten. Das Bundesinnenministerium wollte wissen, ob die Behörden "etwas falsch eingeschätzt" hätten. In München waren Pläne für einen Bombenanschlag auf das jüdische Zentrum entdeckt worden. Eine braune "Kameradschaft Süd" hatte 1,7 Kilogramm TNT-Sprengstoff gebunkert und Fritsches früherer Chef Beckstein meinte, es gebe eine "braune RAF". "Wie ist die Aussage Becksteins zu bewerten? Sehen wir das genauso? Hatten wir dazu Erkenntnisse?" fragte das Bundesinnenministerium.
Fritsche antwortete und lag voll daneben. Die RAF-Terroristen, erklärte er, hätten unter falscher Identität, ausgestattet mit falschen Personaldokumenten in konspirativen Wohnungen gelebt. Zur Finanzierung ihres Kampfes habe die RAF "Raubüberfälle begangen". Es gebe "keine Anhaltspunkte", dass es "in der rechtsextremistischen Szene eine solche Gruppe gibt", schrieb Fritsche damals. "In der Presse", werde "angeführt, dass es im Rechtsextremismus sehr wohl ein potenzielles Unterstützerumfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen, die seit mehreren Jahren abgetaucht" seien.
Den Medien sei "entgegenzuhalten, dass diese Personen auf der Flucht sind und - soweit erkennbar - seither keine Gewalttaten begangen haben. Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität". Die "drei Bombenbauer" - das war der Kern des NSU mit den Mördern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und ihrer mutmaßlichen Komplizin Beate Zschäpe. Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU bereits fünf Geldhäuser überfallen, vier Menschen ermordet. Mitglieder der Bande lebten in der Illegalität mit falschen Papieren und überfielen Banken - wie einst die RAF.
Kann man krachender danebenliegen als Fritsche mit seiner Kurz-Analyse? Einen Monat später, im Oktober 2003, fand in Köln eine Arbeitstagung der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zum selben Thema statt: "Gibt es im Bereich Rechtsextremismus Gruppierungen, von denen eine Gefahr der Entstehung terroristischer Strukturen ausgeht?". Die Antwort war, zusammengefasst, ein blasses, wieder falsches Nein.
So wenig Durchblick wie beim NSU war noch nie
Im Juli 2004, einen Monat nach dem Nagelbombenanschlag auf Ausländer in Köln, erschien ein "BfV Spezial" zum Thema "Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten - Entwicklungen von 1997 bis Mitte 2004". Im Theorieteil wurde ziemlich genau - allerdings nur unter Verweis auf das Vorgehen von Neonazis im Ausland - das Muster des NSU-Terrors beschrieben. Ausgerechnet unter Verweis auf die drei damals untergetauchten "Bombenbastler" aus Thüringen wurde dann erklärt, dass es in Deutschland keine solche "wirkungsvolle Unterstützerszene" gebe, "um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund führen" zu können.
"Sie wissen nicht viel über uns", spotteten RAF-Terroristen einst über Verfassungsschützer und Terrorjäger: "Sie haben nie wirklich durchgeblickt." Aber so wenig Durchblick wie im Fall NSU war nie. Es gibt in diesem Fall Fehleinschätzungen und Irrtümer unterschiedlicher Sicherheitsbehörden. Nachrichtendienste wie das BfV haben keine eigene Strafermittlungskompetenz, aber für Bewertungen der Lage sind sie zuständig und auch verantwortlich. Bei den Analysen des BfV fällt auf, dass Fritsche und seine Leute nicht einmal theoretisch für möglich hielten, was praktisch passiert ist.
Man hätte "es durchaus besser wissen können", hat der langjährige Verfassungsschutz-Präsident Heinz Fromm im November 2011 bei einem Vortrag in Weimar erklärt. Fromm ist in diesem Sommer nach einer Schredder-Aktion in seinem Amt, von der er nichts wusste, zurückgetreten. Die Morde seien "eine schwere Niederlage für die deutschen Sicherheitsbehörden" hat er gesagt. Von dieser "schweren Last" könne er auch nicht "durch die jetzt in Gang befindliche Aufklärung" entlastet werden. Mittlerweile sind auch die Verfassungsschutz-Chefs von Sachsen und Thüringen nicht mehr in ihren Ämtern.
Der unauffällige, kenntnisreiche und tüchtige Beamte Fritsche hat bislang alle Turbulenzen ohne Kratzer überstanden. Im Untersuchungsausschuss muss er sich nun heftiger Kritik stellen. Er sagte dort, niemand habe sich 2003, als die Frage nach einer "braunen RAF" aufkam, vorstellen können, dass es zu dem Zeitpunkt bereits eine Terrorgruppe namens NSU gab, die auch schon ihre ersten Morde begangen hatte. "Ich würde mir wünschen, dass es anders gewesen wäre."