Süddeutsche Zeitung

NSU:Das rätselhafte NSU-Opfer

  • Der Anwalt Ralph W. nimmt für eine Frau namens Meral Keskin seit mehr als 230 Verhandlungstagen am NSU-Prozess teil, obwohl dieses vermeintliche Anschlagsopfer nie existierte.
  • Das Oberlandesgericht München fordert deshalb mehr als 200 000 Euro von W. zurück, für Reisekosten und Vorschüsse auf Sitzungsgebühren.
  • W. weigert sich und gibt an, er habe nicht gewusst, dass es das Opfer gar nicht gibt. Ihm sei das Mandat vermittelt worden.

Von Wiebke Ramm

Als die Bombe des NSU vor dem Friseurgeschäft in der Kölner Keupstraße explodiert, sitzt Atilla Ö. im Laden direkt vor dem Fenster. 22 Menschen werden bei dem Anschlag im Juni 2004 verletzt. Atilla Ö. erleidet Schnittverletzungen an Kopf und Arm. Eine Frau namens Meral Keskin ist nicht unter den Opfern. Der Eschweiler Anwalt Ralph W. nimmt für die Frau, die es nicht gibt, trotzdem an mehr als 230 Verhandlungstagen als Nebenklagevertreter am NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München teil. Erst zweieinhalb Jahre nach Prozessbeginn fliegt der Schwindel auf. Nun hat der Anwalt die Rechnung bekommen.

Das Oberlandesgericht München fordert exakt 211 252,54 Euro von W. zurück, für Reisekosten und Vorschüsse auf Sitzungsgebühren. Zuständig für die Vollstreckung der Rückforderung ist die Landesjustizkasse am Sitz des Oberlandesgerichts Bamberg. Dessen Sprecher sagt, die Zahlungsaufforderung sei Ende Oktober an W. rausgegangen. Er sagt auch, dass sich der Anwalt gegen die Forderung wehrt. W. gibt demnach an, er habe nicht gewusst, dass es das Opfer gar nicht gibt. Ihm sei das Mandat vermittelt worden und er habe sich darauf verlassen, dass Meral Keskin existiert.

Der Münchner Senat hält an seiner Forderung fest. Der Beschluss ist rechtskräftig. W. wehrt sich weiter. "Mein Mandant ist willens, sämtliche Rechtsmittel und Rechtsbehelfe auszuschöpfen", sagt dessen Verteidiger Peter Nickel.

Der Vorwurf: Anwalt W. soll sich mit einem echten NSU-Opfer zusammengetan haben

Die Staatsanwaltschaft Aachen ermittelt seit Oktober 2015 wegen des Verdachts des Betrugs gegen Anwalt W. Der Vorwurf: W. soll sich gemeinsam mit dem echten NSU-Opfer Atilla Ö. das falsche Opfer ausgedacht haben. W. bestreitet dies. Auch gegen Atilla Ö. wurde wegen Betrugs ermittelt. Zuständig in seinem Fall war die Staatsanwaltschaft Köln. Am 23. September ist Ö. nach schwerer Krankheit gestorben. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde sechs Tage später eingestellt.

Ralph W. hatte Atilla Ö. angezeigt und beschuldigt, ihm die Existenz von Meral Keskin vorgegaukelt zu haben. Die Version von Ö. geht anders. Aus Justizkreisen heißt es, Ö. habe ausgesagt, W. habe von Anfang an gewusst, dass Meral Keskin nicht existiert. Ö. sagte auch, dass er sich Geld von W. versprochen habe. Er habe aber lediglich 1000 Euro bekommen. W. widerspricht dieser Darstellung.

W. bleibt nach Angaben seines Verteidigers dabei: Er sei immer davon ausgegangen, dass Meral Keskin existiert. Aber wie kann ein Anwalt nicht merken, dass er keine Mandantin hat? W.s Antwort: Ö. habe ihm eine Frau als Meral Keskin vorgestellt, die ausschließlich Türkisch sprach. Die Kommunikation sei daher vollständig über Ö. gelaufen. Der Anwalt will die Frau ein einziges Mal gesehen haben. Erst im Oktober 2015 will er dann erfahren haben, dass diese Frau nicht Meral Keskin war, sondern die Mutter von Ö.

In seinem Antrag auf Zulassung der Nebenklage an das Oberlandesgericht München hat W. seine Version, er habe nie direkt mit dem vermeintlichen NSU-Opfer gesprochen, nicht erwähnt. Er spricht in dem Antrag stattdessen von einer Vernehmung durch die Polizei. Wenn er wirklich an die Existenz des Opfers geglaubt hat: Fiel ihm nie auf, dass es in den Prozessakten kein Protokoll dieser Vernehmung gibt?

Die Sache ist verworren. Auch Ermittlern fällt es schwer zu glauben, dass ein Anwalt die Chuzpe besitzt, jahrelang von Eschweiler nach München zu reisen, in der Annahme, es wird schon keiner merken, dass er bloß so tut, als hätte er eine Mandantin. Der Verteidiger von Ralph W. betont einen anderen Punkt, der W. entlasten soll. W. sagte gleich im Oktober 2015, er habe Atilla Ö. eine Provision für die Vermittlung des Mandats gezahlt. "Warum sollte Herr W. jemandem Geld für eine Mandantin zahlen, die er sich selbst ausgedacht hat?", fragt Nickel.

Dass W. Geld für die Vermittlung eines Mandats gezahlt haben will, hat ihm allerdings ein weiteres Problem beschert. Die Zahlung einer Provision verstößt gegen die Bundesrechtsanwaltsordnung. Die Kölner Anwaltskammer hat berufsrechtliche Schritte eingeleitet. Das anwaltsgerichtliche Ermittlungsverfahren wird von der Generalstaatsanwaltschaft Köln vorerst nicht weiterverfolgt: Man wolle erst mal den Ausgang des strafrechtlichen Verfahrens in Aachen abwarten.

Wo die 5000 Euro Härteleistung für Keskin gelandet sind, ist unklar

Und dann sind da noch die 5000 Euro, die die Bundesrepublik an mehrere NSU-Opfer als sogenannte Härteleistung gezahlt hat - auch an Meral Keskin. Wo die 5000 Euro gelandet sind, ist unklar. Atilla Ö. soll bestritten haben, das Geld bekommen zu haben. Verteidiger Nickel sagt hingegen, W. habe das Geld "an Herrn Ö. zur Weiterleitung an Frau Meral Keskin übergeben". Er sagt auch: "Diese Zahlung meines Mandanten für Meral Keskin wurde durch Herrn Ö. quittiert beziehungsweise konnte über die Buchhaltung des Mandanten nachgewiesen werden." Nach SZ-Informationen soll es sich bei dem Beleg um den Durchschlag einer Quittung handeln, mit dem die Ermittler nicht viel anfangen können. Ob die Unterschrift darauf wirklich von Ö. stammt, sei fraglich, heißt es.

Nach Angaben von Nickel ist nur Ö., nicht W. aufgefordert worden, die 5000 Euro zurückzuzahlen. Das zuständige Bundesamt für Justiz widerspricht schriftlich: "Richtig ist, dass das Bundesamt für Justiz beide, Herrn Ö. und Herrn W., zur Rückzahlung der 5000 Euro aufgefordert hat." Gegen Ö. gab es schon einen Vollstreckungstitel, bei W. wartet man auf den Ausgang des Verfahrens in Aachen.

"Die Ermittlungen stehen kurz vor dem Abschluss", heißt es von der Staatsanwaltschaft Aachen. Ob die Beweislage für eine Anklage gegen Anwalt W. ausreicht, sagt die Sprecherin nicht.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2017/dayk
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