Was Normalität sein sollte, wirkte plötzlich wie eine Sensation: ein kompetenter Kriminalbeamter aus Baden-Württemberg. Ausführlich schilderte diese Woche im NSU-Untersuchungsausschuss ein Hauptkommissar aus Ludwigsburg die Arbeit seiner Ermittlungsgruppe nach dem Feuertod des 18-jährigen Arthur C. Der junge Mann war im Januar 2009 auf einem Parkplatz nahe Heilbronn mit tödlichen Brandverletzungen neben seinem ausgebrannten Auto gefunden worden.
In den folgenden Wochen arbeiteten die Ermittler 246 Spuren ab, befragten 66 Personen, werteten Tausende Funkzellendaten aus, simulierten den Brand. Ergebnis: keine Hinweise auf ein Tötungsdelikt, keine Hinweise auf Verbindungen zur organisierten Kriminalität oder in die rechte Szene. Vieles spreche für Suizid, "Selbstbestrafung" wegen homosexueller Neigungen. Doch einen Beleg gebe es auch dafür nicht. Frustrierend sei das für einen Ermittler, gestand der Hauptkommissar.
Frustrierend. Und dennoch dankte ihm Wolfgang Drexler (SPD), der Ausschussvorsitzende. Er nannte die Arbeit von Polizei und Staatsanwalt in dem Fall "lehrbuchmäßig". Sie stand jedenfalls im krassen Kontrast zu den Ermittlungen nach dem Tod des 21-jährigen Florian H., der unter ähnlichen Umständen im September 2013 auf dem Cannstatter Wasen gestorben war.
Zschäpe und NSU-Helfer:Rechter Terror auf der Anklagebank
Die Bundesanwaltschaft hat Beate Zschäpe als Mittäterin wegen Mordes angeklagt, aber auch vier weitere Beschuldigte werden vor Gericht gestellt. Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben sowie Holger G., Carsten S. und André E. halfen dem NSU mit Waffen und Ausweispapieren.
Ein 13-jähriger schmalbrüstiger Junge? Er dürfte wohl eher als Großmaul denn als Zeuge gelten
Beide Todesfälle gehören zu den Mythen, die sich um die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ranken. Arthur C. soll am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese gesehen worden sein, als die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen und ein Kollege schwer verletzt wurde. Florian H. soll die Täter frühzeitig gekannt haben. H.'s Tod kurz vor einer Vernehmung durch das Landeskriminalamt wurde so schlampig - und wohl einseitig in Richtung Selbstmord - untersucht, dass als Folge der Ausschuss-Ermittlungen nun Disziplinarverfahren gegen drei beteiligte Beamte laufen. Innenminister Reinhold Gall sagte am Mittwoch, er lasse prüfen, ob auch ein strukturelles Versagen vorliege.
Kann der Untersuchungsausschuss, der nach langen Querelen erst Ende vergangenen Jahres eingesetzt wurde, wirklich mehr sein als nur eine Show-Veranstaltung? Die Antwort ist mittlerweile eindeutig: er kann. Seitdem Wolfgang Drexler der Öffentlichkeit Gegenstände vorführte, die die Polizei im Autowrack übersehen hatte - darunter die Schlüssel, eine Pistole, eine Machete - findet sein Gremium öffentliche Beachtung. Die Parlamentarier lassen, ganz entgegen sonstigen Gepflogenheiten, ihre parteipolitischen Ressentiments ruhen und ziehen an einem Strang. Sie beschaffen Florian H.'s Whatsapp-Kommunikation, lassen sein Auto noch einmal untersuchen, befragen Familienangehörige, Freunde, Weggefährten aus der rechten Szene ebenso wie Polizeibeamte. Und sie empören sich gemeinsam, wenn ein Staatsschützer die Begriffe Rechtspopulismus und Rechtsextremismus verwechselt.
Trotz aller Fehler der Polizei wird vermutlich im Fall Florian H. am Ende die Erkenntnis stehen: Es handelt sich tatsächlich um den Selbstmord eines labilen jungen Mannes. Weiterhin deutet nichts auf Fremdverschulden hin. H. zählte in den Jahren 2010 und 2011 zu einer rechten Heilbronner Clique, um die sich im Fall Kiesewetter viele Verschwörungstheorien drehen. Hat der NSU aus der Szene damals Unterstützung erhalten? Die Auftritte im Untersuchungsausschuss lassen vermuten: Unter diesen jungen Männer gab es vorwiegend Großmäuler.
Exemplarisch Florian H. selbst, der sich seinen Kumpels als vierfacher Mörder vorstellte, und auch der berüchtigte "Matze". Den hatte H. mehrmals als Schlüsselfigur im NSU-Komplex bezeichnet. "Matze", dessen Identität jetzt erst ermittelt werden konnte, ist ein schmalbrüstiger junger Mann und war zum Zeitpunkt des Kiesewetter-Mordes 13 Jahre alt. Nach seiner Aussage zu urteilen hat er die laut H. deutschlandweit agierende, den NSU unterstützende "Neoschutzstaffel" möglicherweise nur erfunden. Florian H. und er selbst scheinen jedenfalls die beiden einzigen Mitglieder gewesen zu sein.
Am 4. Mai will der Untersuchungsausschuss näher an die Verbrechen des NSU heranrücken. Die Parlamentarier werden in Heilbronn den Tatort Theresienwiese in Augenschein nehmen und danach im Rathaus tagen.