Was dem Mann zur Last gelegt wird, liest sich wie ein - sehr langer - Auszug aus dem Strafgesetzbuch: Beleidigung, Bedrohung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, Besitz von Kinderpornos, Verstoß gegen das Waffengesetz und zuletzt auch noch ein tätlicher Angriff auf Polizisten, als sie ihn festnehmen wollten. Dennoch umreißen diese Vorwürfe nur sehr unzureichend, was der Angeklagte Alexander M., 54, aus Berlin getan haben soll: Unter dem Namen NSU 2.0 soll er über zweieinhalb Jahre Angst und Schrecken in Deutschland verbreitet haben. NSU 2.0 drohte Anwältinnen und Journalistinnen, ihre Kinder umzubringen; er drohte Politikerinnen mit der Hinrichtung; Schulen und Gerichten drohte er mit Bombenexplosionen. Er verbreitete Hass und Hetze und rief seine rechtsradikalen Kameraden auf, die Opfer, die er markiert hatte, zu töten. Die geheime Adresse einer Frankfurter Anwältin stellte er dafür ins Netz.
Es dauert fast drei Stunden, bis der Staatsanwalt und seine Kollegin die Anklage verlesen haben
Nun steht Alexander M. vor Gericht - ein großer, bulliger Typ, mit Berliner Schnauze. Sofort, noch in Handschellen, zeigt er den Mittelfinger. Die Wachtmeister nehmen ihm die Handschellen erst ab, als die Richter hereinkommen.
Es dauert fast drei Stunden, bis Staatsanwalt Sinan Akdogan und seine Kollegin die Anklage verlesen haben. Sie könnten genauso gut einen Eimer mit Jauche ausschütten. Drei Stunden lang ein Auszug aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Todesurteile, Beleidigungen, Unsägliches. Danach hat man das dringende Gefühl, sofort eine Dusche zu benötigen. Der Angeklagte habe seine Opfer böswillig verächtlich gemacht, sagt der Staatsanwalt. So klingt das fast harmlos.
Sofort geht Alexander M. auf Konfrontationskurs. Seinen Namen sagt er noch, sein Geburtsdatum auch. Die Adresse nicht. "Ich gebe keine Adresse an", sagt er - der Mann, dem vorgeworfen wird, die Adressen seiner Opfer veröffentlicht und "deutsche Patrioten" auf sie gehetzt zu haben. Die Richterin lässt es geschehen, Alexander M. sitzt ohnehin in der JVA Frankfurt.
Immer wieder arbeitet sich NSU 2.0 an Walter Lübcke ab
Für seine Drohschreiben benutzte Alexander M. laut Anklage die Adresse türkensau@yandex.com. Meistens habe er sich SS-Obersturmbannführer genannt, unterschrieben habe er mit "NSU 2.0" und "Heil Hitler". Türkischstämmige Menschen werden in den Briefen durchgehend als "Abfallprodukte" oder "hirntote Scheißdöner" bezeichnet, Frauen nur als "fette Türkensau", "Fotze", "Flittchen". Nun steht ihm ein türkischstämmiger Staatsanwalt gegenüber, und eine Frau ist Vorsitzende Richterin.
Immer wieder arbeitet sich NSU 2.0 an Walter Lübcke ab, dem Kasseler Regierungspräsidenten, der 2019 von einem Neonazi erschossen wurde. Der Ermordete sei ein "Volksschädling" gewesen, dessen "durch und durch schäbigen und würdeloser Existenz wir ein würdiges Ende bereitet haben", steht in den Briefen.
Alexander M. hört sich das alles an, eher gelangweilt, die Hände verschränkt. Er trägt eine graue Jacke mit neongelben Schulterstücken und erinnert damit an Mitarbeiter der Müllabfuhr - nur, dass er laut Anklage Müll verbreitete, statt ihn einzusammeln.
Nach der Verlesung der Vorwürfe will der Angeklagte sofort reden. Er wolle die Dinge nicht unkommentiert im Raum stehen lassen, sagt er energisch. Seine Anwälte bremsen ihn, lieber morgen, so ist es mit dem Gericht vereinbart. Aber er will trotzdem, jetzt. "Das bestimme ich, ich leite das Verfahren", sagt die Richterin. "Ich bin hochmotiviert, mich zur Sache zu äußern", entgegnet er immer noch. "Morgen", sagt die Richterin. Alexander M. wird abgeführt.