NSA-Spähaffäre:Eine Liste zum Finger verbrennen

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Mindestens 2000 Politiker und Dienststellen der EU hatten die USA mit deutscher Hilfe im Visier. Berlin muss nun die heikle Frage lösen, was mit der Selektoren-Liste passiert, die die NSA beim BND einspeiste. Das Kanzleramt fürchtet den Zorn der Amerikaner.

Von Hans Leyendecker und Georg Mascolo, München

Das brisanteste Stück Papier in der Hauptstadt ist sicherlich kein reines Lesevergnügen. 38 897 Einträge, zumeist E-Mail-Adressen, sind in Ordnern abgeheftet. Rund zwanzig passen auf eine Seite. Viele Jahre lang existierten die Adressen nur in einer elektronischen Datei. Eine spezielle Projektgruppe des Bundesnachrichtendienstes (BND), die von seinem Präsidenten Gerhard Schindler eingerichtet worden war, hatte im März dieses Jahres per "Beweisbeschluss BND-26" angeordnet, dass die Datei jetzt in Papierform gebracht werden müsste.

Es gibt derzeit nur zwei Ausfertigungen. Eine beim BND, eine im Kanzleramt. Streng geheim. Die Liste ist heiß. Man kann sich daran die Finger verbrennen.

Mindestens ein vertrauenswürdiger Mensch soll sie demnächst lesen dürfen. Vielleicht ein Richter vom Bundesgerichtshof. Der Name steht nicht fest. Unklar ist auch, ob er Ermittlungsbeauftragter, Sonderermittler oder Sachverständiger genannt werden soll. Er soll sowohl für das Parlament als auch für die Regierung tätig werden. Ob das überhaupt geht, ist unklar.

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Das Kanzleramt will die Suchbegriffe geheimhalten, mit denen der BND für den US-Geheimdienst NSA spioniert hat - nur eine Vertrauensperson soll Einblick nehmen dürfen. Der SPD reicht das nicht.

Von Hans Leyendecker und Georg Mascolo

Die geheimen Unterlagen enthalten die lange Liste der Selektoren, also der nachweislich von der NSA benutzten Suchbegriffe, die Spionageziele in Europa waren. 7089 Personen und Institutionen in Europa stehen auf der Liste. Darunter Firmen. Einige der Ziele sollen aktiv beobachtet worden sein, andere nicht.

Vereinbarung über den Horchposten Bad Aibling haben die USA gebrochen

In einer feineren Auflistung, einem geheimen "Testat", hat der BND festgehalten, dass es sich bei mindestens 2000 der Spionageziele um "Persönlichkeiten der europäischen Politik" und um "Dienststellen europäischer Mitgliedstaaten" handele. Das meint: Fast jedes europäische Land soll betroffen sein. An vielen Plätzen soll die NSA versucht haben, mithilfe des BND hochrangige Politiker und Spitzenbeamte auszuspionieren.

Manchem in Europa mag das egal sein, anderen ist es nicht egal. In Belgien beispielsweise hat die Justiz Vorermittlungen eingeleitet, um die Lage zu sondieren. Kleinreden lässt sich der Skandal nicht. Er ist auch unangenehm. Einerseits muss Kanzlerin Angela Merkel die Wut einiger Ausspionierter befürchten. Andererseits droht viel Schlimmeres: der Zorn der USA. Kanzleramt und BND erwarten eine heftige Reaktion der USA, falls Details der amerikanischen Spionageoperationen in Europa bekannt werden sollten.

Gewitterwolken über der Abhörstation des Bundesnachrichtendienstes in Bad Aibling. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Die USA, so heißt es in Berlin, drohten nicht offen. Deutsche Diplomaten und Geheimdienstler berichten aber, dass amerikanische Kollegen eher kühl sagten, sie seien in großer Sorge. Wenn etwas bekannt werde, sei klar, dass man sich auf die Deutschen nicht verlassen könne. "Erste Partnerdienste weltweit, nicht nur in Europa, überprüfen ihre Kooperation mit dem BND", sagte Schindler bei seinem Auftritt vor dem NSA-Untersuchungsausschuss im Mai: "Die Signale, die wir dabei hören, sind alles andere als positiv."

Alles, was in den kommenden Wochen passieren wird, findet vor dieser Kulisse statt. Die SPD, die bei der Aufklärung des Skandals anfangs für eine weitgehende Beteiligung des Parlaments votiert hatte, favorisiert jetzt aus Sorge vor heftigen Reaktionen der Amerikaner eine eher kleine Lösung. Das Kanzleramt möchte eine Person, die einen Einblick bekommt. Dann wisse man Bescheid, wenn etwas durchsickere, soll Kanzleramtsminister Peter Altmaier gesagt haben. Wochenlang hat er mit dem Stabschef des Weißen Hauses, Denis McDonough, über eine Freigabe der Liste verhandelt. Vergeblich.

Die SPD fände es nicht schlecht, wenn zwei vertrauenswürdige Leute in die Liste schauen könnten. Einen der beiden könnte dann möglicherweise die Opposition von Grünen und Linken benennen.

Unbestritten ist, dass die Amerikaner eindeutig das "Memorandum of Understanding" gebrochen haben, mit dem im Jahr 2002 die gemeinsame Arbeit am Horchposten in Bad Aibling geregelt worden ist. Unter Annex 1 ("Betriebskonzept") steht, dass "europäische Ziele" nur ausnahmsweise aufgeklärt werden dürften. Da müssten Hinweise auf Terrorismus, Proliferation oder Drogenhandel vorliegen. Politische Spionage ist verboten. Auch die Experten der Bundesregierung räumen ein, dass die Amerikaner das Abkommen gebrochen haben. Dabei hatten die Amerikaner auf dem ersten Höhepunkt der Snowden-Enthüllungen 2013 behauptet, sie hätten sich immer an alle Abkommen gehalten.

Ein komplizierter Fall. Es habe ihm an "Fantasie" gefehlt, sich vorzustellen, was da in der Praxis mit der NSA abgelaufen sei, hat Schindler vor dem Ausschuss gesagt. Er sei der Auffassung gewesen, dass sich der US-Geheimdienst an das mit den Deutschen geschlossene Abkommen halte. Das Memorandum, das mit dem Geheimhaltungsgrad "Streng geheim" eingestuft worden war, hat viele Jahre niemand beim Dienst, niemand im Kanzleramt gelesen. Schindler: "Vieles ist im Nachhinein schwer oder kaum erklärbar."

© SZ vom 10.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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