NS-Zeitzeugen:Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen

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Rolf Kralovitz musste als Jugendlicher Zwangsarbeit als Totengräber leisten. Buchenwald hat er überlebt - und den Verlust seiner Kindheit in Schrift, Ton und Bild festgehalten

Dass er nichts empfand, nicht mehr wusste, was er empfinden sollte, sei ihm nach der Befreiung klar geworden, sagt Rolf Kralovitz. Einige Tage, nachdem die 6. Panzerdivision der Amerikaner dem Grauen im Konzentrationslager Buchenwald am 11. April 1945 ein Ende bereitet hatte, stand er auf einem idyllischen Dorffriedhof und betrachtete die Grabsteine; ihre ordentliche Reihung, ihren Schmuck und die eingemeißelten Namen. Leichen kannte der damals 19-Jährige "nur als Berge", als Mitglied der Fuhrkolonne hatte er die Toten aus Auschwitz vom Bahnhof abholen und im Buchenwalder Krematorium "wie Holz aufstapeln" müssen.

Rolf Kralovitz musste für die "Fuhrkolonne" des KZ Buchenwald Leichen transportieren und im Krematorium aufschichten. (Foto: Foto: dpa)

Hier auf dem Friedhof gab es nun "einen Namen für jeden Toten - das schien mir plötzlich seltsam unverhältnismäßig".

Was haben Sie empfunden? Das ist die häufigste Frage, die man Kralovitz über seine Jahre als "Häftling Zehn/Null/Neunzig" des KZ Buchenwald gestellt hat. Immer und immer wieder. Und der heute 83-Jährige muss dann erklären, dass die Beschreibung seiner Empfindungen außerordentlich schwer ist. Es möge paradox klingen, aber 1945 sei zuerst das "Gefühl der Befreiung ungeheuer stark" gewesen. Weil er ja zwölf Jahre lang nur Angst, Hunger, Enge und Verlust erlebt hatte. Und er nun plötzlich einen Anzug besitzen durfte und ein möbliertes Zimmer und Kabarett spielen konnte, erst in Leipzig und dann im Münchner Simpl.

Wieso haben Sie nach all dem Schrecken überhaupt noch in Deutschland leben wollen und wie konnten Sie Kabarett spielen?, lauten die zweit- und dritthäufigste Fragen, die man an den Zeitzeugen richtet. Und spätestens dann weiß Rolf Kralovitz wieder, dass man zwar erklären kann und erklären muss. Dass das aber nicht bedeutet, dass seine Zuhörer begreifen. Weil sein Schicksal eine Dimension besitzt, die für Nichtbetroffene niemals fassbar ist.

Rolf Kralovitz, 83, musste als Jugendlicher in Leipzig Zwangsarbeit als Totengräber leisten. Zwischen 1943 und 1945 war er im KZ Buchenwald inhaftiert.

Kralovitz sagt, dass er "die Pflicht hat, es weiterzuerzählen, ich bin nicht berechtigt, es für mich zu behalten." Im Auftrag seiner ermordeten Familie, deren einziger Überlebender er ist. "Weil es sonst ja niemand wüsste." Seine Frau Brigitte merkte manchmal vorsichtig an, dass er wegen seiner vielen Arbeit - auf der Bühne und später als Produktionsleiter beim WDR - lange von seinen Erfahrungen "nicht so viel Gebrauch" gemacht habe.

Heute, so findet Kralovitz, könne man wohl sagen, dass erst der Verlust des Augenlichts 1975 und seine Frühpensionierung ihn zum systematischen Zeitzeugen gemacht habe. Erst durch seine Erblindung begann er, anderen zu helfen, besser zu sehen - "wenn sie sehen wollten". Von da an kam mit jedem Tag die Vergangenheit näher.

Gemeinsam mit seiner Frau schrieb er Hörspiele und Features - etwa über den Verlust der Kindheit eines jüdischen Jungen aus Leipzig - seine Kindheit. Oder über das Schicksal seiner Tante, die in Auschwitz vergast wurde. Kralovitz ging auf Lese- und Diskussionsreise, stand für Dokumentarfilme zur Verfügung, und er schrieb seine Erfahrungen aus dem KZ auf. "Zehn/Null/Neunzig in Buchenwald" gehört heute in Deutschland zu den bekanntesten Zeugnissen seiner Art.

Er werde vor allem immer wegen seiner Sachlichkeit gelobt, sagt Kralovitz. Er sei aber nur "um Wahrheit" bemüht, sachliche Fehler, oder Versuche, die Vergangenheit politisch zu instrumentalisieren, regen ihn auf.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass selbst die Menschen, die Kralovitz zuhören, immer nur eine "Erschütterung zweiter Hand" erleben. Weil zum Beispiel der Torgang des KZ Buchenwald, auf dem zynisch "Jedem das Seine" steht, nie dasselbe in ihnen auslösen wird wie bei Kralovitz. Weil er nur die Akustik hören muss, und er weiß wieder, wie er der SS-Wache damals Meldung machte. Mit dem Gurt wie ein Pferd vor die Deichsel des Totenwagens geschnallt. Jeden Tag sagt er sich, dass das alles gar nicht passiert sein kann. "Doch es hat stattgefunden. Ich war dabei."

© SZ vom 05.06.2009/jab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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