Süddeutsche Zeitung

NS-Zeit:Teamwork der Diktatoren

Claudia Weber interpretiert den Hitler-Stalin-Pakt, der am 23. August 1939 unterzeichnet wurde, mit innovativem Anspruch - und seltsamen Methoden. Die entscheidende Quellenedition scheint sie nicht zu kennen.

Von Jost Dülffer

Am 23. August jährt sich die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes zum 80. Mal. Der Pakt, von den Außenministern Ribbentrop und Molotow unterzeichnet, war öffentlich ein Nichtangriffspakt. Er enthielt aber ferner ein geheimes Zusatzabkommen, mit dem die beiden Diktatoren praktisch ganz Ostmitteleuropa von Finnland bis Rumänien in Einflusszonen unterteilten. Das bildete die Basis für die zeitlich versetzt vorgenommene Eroberung und Teilung Polens und sodann für die zumeist ultimativ unternommenen weiteren Besetzungen der entsprechenden Gebiete durch die Sowjetunion. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion blieben bis zum deutschen Überfall am 22. Juni 1941 zwar angespannt, aber für beide Seiten fruchtbar, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, und brachten Zeitgewinn.

Beide Diktatoren waren sich bewusst, dass dies kein dauerhaftes, sondern ein Zweckbündnis im Rahmen des laufenden westeuropäischen Krieges war. Über all dies ist sich die seriöse Forschung seit gut zwei Generationen im Kern einig, streitet sich über Motivationen und Vorgänge im Einzelnen. Diesen Kern der Argumente enthält auch die insoweit gut geschriebene Studie von Claudia Weber, hervorgetreten etwa mit einer Arbeit über die sowjetische Ermordung von mehr als 20 000 polnischen Offizieren und Soldaten, Stichwort: "Katyn" 1940. Nach Webers Meinung jedoch diskutierte "die Geschichtswissenschaft für eine kurze Zeit in den 1990er-Jahren" die Bedeutung des Paktes und vor allem des bis dahin von sowjetischer Seite offiziell geleugneten Aufteilungsprotokolls. In den "Mental Maps" der betroffenen Staaten wie bei uns sei das Ganze aber nicht angekommen - daher eine neue Interpretation, die sich am methodischen Zugriff der Verflechtungsgeschichte neu ausrichten will. Dass es im Grunde genommen seit 1946 intensive, aufgeregte und anregende Debatten zum Thema gab, kommt bei Weber kaum vor; vielleicht kennt sie das auch alles nicht.

Was aber ist wirklich neu? Da ist ein mit deutschen Quellenzitaten ausgeschmücktes Kapitel über den Bevölkerungstransfer zwischen beiden Seiten: die zahlreichen "Volksdeutschen", die wenigen Sowjetbürger, den Umgang mit den erst hin-, dann hergeschobenen Juden. Volksdeutsche Mittelstelle, Auswärtiges Amt und sowjetische "Gewaltakteure" arbeiteten auch auf dem Territorium der anderen Seite jeweils gut, bisweilen angespannt zusammen. Geselligkeiten und tödliche Kooperation gingen zusammen; hohe Ordnungskräfte beider Seiten "vergaßen" dabei angeblich ihre ideologischen Differenzen. Das ist es wohl, was der Untertitel "Mörderische Allianz" signalisieren will. Der Sache nach ist auch das längst bekannt, nicht aber die bisweilen seitenlangen Quellenfunde. Warum diese "Volksdeutschen" aber ins künftige Reich massenweise umgesiedelt wurden, obwohl Hitler doch einen Eroberungskrieg am Ende des Bündnisses plante, wird gar nicht erst gefragt. Viel zu knapp werden die zentralen Wirtschaftsbeziehungen (deutsche Rüstungsgüter versus sowjetische Rohstoffe) angerissen, erwähnt wird der Ansatz im Luftverkehr. All dies gab es schon in der herkömmlichen deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte.

Statt der grundlegenden Quellenedition werden seitenweise Memoiren zitiert

Berge von Papier sind seit sechzig Jahren über die diplomatischen Beziehungen im engeren Sinne, so nicht nur über die beiden Verträge von 1939 (Ribbentrop flog im September 1939 zu einem weiteren Vertrag nach Moskau), sondern auch und vor allem über den Molotow-Besuch in Berlin im November 1940 beschrieben worden. Weber ist mit einigen dürren Ausführungen zu Recht der Meinung, dass das Hitler-Ribbentrop-Angebot einer Erweiterung des Bündnisses zur gemeinsamen Südexpansion scheiterte, weil Stalin primär an Südosteuropa interessiert blieb. Im Frühjahr 1941 habe Stalin zunehmend die deutschen Kriegsvorbereitungen und -absichten erkannt. Letzteres lässt sich weiterhin bestreiten. Dass parallel die deutschen und (in anderer Weise auch) die sowjetischen Militärvorbereitungen liefen, unterstellt wohl eine zu starke Einlinigkeit der jeweiligen Kalküle auf den Krieg hin.

Was an dem Buch stört, ist der durchgängige Gestus des Innovativen, wo doch Sachverhalte dargelegt werden, die seit den 1950er-Jahren im Westen diskutiert werden. Im letzten Jahrzehnt des Ostblocks wurden "Westler" dort wiederholt eingeladen, weil sie vom Geheimen Zusatzprotokoll reden konnten, was die östlichen Kollegen tapfer nicht weiter kommentieren durften, aber immerhin zur Kenntnis nahmen. Das war aber nicht der Anfang der Forschung. Weber stützt sich zu den allgemeinen Beziehungen (neben einer alten Edition von 1949) fast durchgängig auf eine populäre Quellenedition aus den letzten Tagen der DDR aus dem Jahr 1990 (Pätzold und Rosenfeld), gelegentlich auf Internetfunde. Die grundlegende deutsche Edition in über einem Dutzend Bänden scheint unbekannt zu sein. Das ist für eine Wissenschaftlerin nicht seriös. Schlimmer aber: Bei ihrem Durchgang durch die deutsch-sowjetischen Beziehungen seit den frühen 1920er-Jahren zitiert sie in Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Fällen die Memoiren der betroffenen deutschen oder sowjetischen Protagonisten, als ob dies nicht durchgängig nachträglich geschönte Versionen eigenen Tuns waren. Tatsächlich liegen ja vielfach die weniger anschaulichen amtlichen Aufzeichnungen in den Editionen vor. Dass das so nicht geht, lernt ein Studienanfänger an der Universität im ersten Semester. Quellenkritik ist unbekannt, wie ein anderes Beispiel zeigt: Im Rahmen der diversen Umsiedlungen hätten die Deutschen den Russen gesagt, sie wollten nicht noch mehr Juden im deutschen Bereich haben, die Russen sollten sie "doch selbst liquidieren". Wo hat Weber das her? Polens Exilministerpräsident Stanisław Mikołajczyk, der damals in London saß, hatte das im Gespräch mit US-Zeitungen erklärt. Woher er das hatte, ob das stimmte oder nicht, ob es andere Quellen dafür gibt, interessiert nicht; es passt so schön. Neben Katyn offenbare sich auch hier "die Verflechtung der nationalsozialistischen und stalinistischen Besatzung".

Was bleibt? Eine lesbare und im Grundtenor diskussionswürdige Darstellung, die sich methodisch höchst fragwürdiger Vorgehensweisen bedient und einen weit überzogenen innovativen Anspruch erhebt. Das ist dann doch insgesamt enttäuschend.

Jost Dülffer ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln.

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SZ vom 19.08.2019
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