Was erlebten Millionen Menschen in den Jahren 1939 bis 1945 unter deutscher Knechtschaft? „Das Buch zeigt, was unter Besatzung, ohnehin ein hochgradig asymmetrisches Verhältnis, möglich ist, wenn eine Besatzungsmacht nicht willens ist, ihre Kräfte an bestimmte rechtliche und humanitäre Standards zu binden.“ Diese Charakterisierung stammt von der Autorin selbst, und nach der Lektüre von mehr als 500 Seiten kann der Leser eigentlich nur zustimmen. Wobei kriegerische Handlungen ebenso wie die ihnen oftmals folgende Besatzung eines Landes ja immer solche Standards erschüttern – ist dies nicht das Wesensmerkmal des Krieges?
In der von Tatjana Tönsmeyer, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wuppertal, geschilderten Situation im Zweiten Weltkrieg kommt erschwerend noch hinzu, dass Krieg und Besatzung miteinander einhergingen, ja sich gegenseitig durchdrangen; berechtigterweise weist sie darauf hin, dass etwa in Polen die Kämpfe circa fünf Wochen dauerten, die Besatzung jedoch sechs lange Jahre, zu denen indes – das sei hinzugefügt – die blutige Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto sowie des Warschauer Aufstands ein Jahr später im Spätsommer 1944 gehörten. „Noch markanter fällt der Befund für die Niederlande aus: Gekämpft wurde nur wenige Tage, die Besatzung währte fünf Jahre.“
Jean-Paul Sartre schrieb von „Versteinerung“
In ihrem jüngsten Buch nähert sich also Tatjana Tönsmeyer in zehn Kapiteln dem Phänomen der deutschen Besatzung in Europa an, in dem sie unter Bezugnahme auf Jean-Paul Sartres im November 1944 erschienenen Artikel „Paris unter deutscher Besatzung“ vor allem eine „Entmenschlichung“ und „Versteinerung“ der Betroffenen sieht: Dieses versteckte Gift sei eben schrecklicher als Krieg, weil die Menschen „in dieser zweideutigen Lage wirklich weder handeln noch nur denken können“.
In den zehn Kapiteln geht es zunächst um den Erstkontakt mit den Besatzern („Sie kommen“) und um die Unterschiede zu den Friedensgesellschaften (Gesellschaften unter Besatzung) sowie um die Besatzer und ihre Maßnahmen (Besatzer und Besetzte), bevor in den folgenden Kapiteln die Wahrnehmungen der Besetzten anhand von einzelnen Motiven (Einquartierungen, Arbeitsdeportationen, Entmündigung durch schikanierende Bürokratie et cetera) thematisiert werden; die Kapitel „Dazugehören-Wollen“ und „Ausgeschlossen-Werden“ betreffen das, was die Autorin „Interaktion“ nennt, und im letzten Kapitel geht es schließlich um das Nein-Sagen der Besetzten gegenüber den Besatzern.
All diese Aspekte will Tatjana Tönsmeyer im Rahmen einer europäischen Geschichte der deutschen Besatzung jenseits von nationaler Fokussierung zeigen, und es geht ihr darum, diese Geschichte aus der Sicht der Betroffenen, also der unter deutscher Besatzung leidenden Männer und Frauen zu schreiben, denen sie eine Stimme geben will. Letzteres gelingt ihr zweifellos, auch wenn dieser Ansatz nicht ganz so neu ist, wie sie ihn darstellt – man denke beispielsweise an das unlängst erschienene Buch von Raffael Scheck „Frühling 1940. Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten“, und auch das 2014 erschienene Buch „Der wilde Kontinent“ von Keith Lowe schildert die Ereignisse von Kriegs- und Nachkriegszeit aus der Perspektive derer, die sie erlebten und erlitten. Überdies entsprechen die unglaublichen Grausamkeiten, mit denen deutsche Soldaten die Bevölkerungen der besetzten Länder quälten und erniedrigten und die in Tönsmeyers Buch zur Sprache kommen, weitgehend den Schilderungen, wie man sie aus Harald Welzers Buch „Täter“ und Christopher Brownings „Ganz normale Männer“ kennt.
Ego-Dokumente aus zahlreichen Archiven
Bei den Quellen, die Tatjana Tönsmeyer zitiert, hält sie sich konsequent an die Perspektive der die Besatzung erduldenden Zeitzeugen, und dazu hat die Autorin unzählige sogenannte Ego-Dokumente aus verschiedenen Archiven der betroffenen Länder ausgewertet; aus ihnen wird indes eben auch deutlich, dass die Verrohung, die der Krieg mit sich bringt, vor den Besetzten nicht haltmacht – wie sollte dies auch anders sein, führt doch Gewalterfahrung zu Wut und Gegenwehr: Deutlich wird dies an einer von Tönsmeyer zitierten Aufzeichnung, in der eine ehemalige Soldatin der Roten Armee ihre Empfindungen schildert, als die Männer ihrer Einheit gefangene deutsche Soldaten mit Bajonetten massakrierten: „Ich wartete“, so erinnert sie sich, „wartete lange bis zu dem Moment, als ihre Augen vor Schmerzen brachen. Die Pupillen. Stößt es Sie ab, so etwas zu hören? Ist es grausam? Wenn ein großes Feuer in der Mitte des Dorfes vor ihren Augen angezündet worden ist und ihre Mutter hineingeworfen wurde? Ihre Schwester? Ihre geliebte Lehrerin?“
Dieses Zitat lässt den Leser etwas ratlos zurück: Unmittelbar zuvor wird eine der unzähligen deutschen Grausamkeiten mit den Worten eines Zeitzeugen aus dem ostukrainischen Donbass geschildert: „Dort [im Lager] starben die kriegsgefangenen Soldaten, hungrig und unter freiem Himmel. Sie wurden bei noch lebendigem Leibe auf Schubkarren angekarrt und in die Gräber geworfen. Da haben die Leute, die das sahen, verstanden, wer die Deutschen sind und wie sie sich verhalten – da zeigten sie wirklich ihre Wesensart.“ Auch andernorts seien Angehörige der Besatzungsgesellschaften „zu ähnlichen Erkenntnissen“ gekommen, kommentiert die Autorin lakonisch, ohne darauf einzugehen, dass die Grausamkeiten der nationalsozialistisch geprägten Besatzer gegenüber den Besetzten ja immer darauf beruhten, anderen Menschen eine andere Wesensart anzudichten – genau darin lag doch das Menschenverachtende dieses Krieges, der von den deutschen Besatzern im Namen der Ideologie eines sogenannten „Herrenmenschentums“ geführt wurde.
Die Autorin mag nicht von „Kollaboration“ sprechen
Angesichts dessen erstaunen Sätze wie „Vertrauen zu etablieren, war kein deutsches Ziel“; noch fragwürdiger erscheint indes angesichts dieser Spirale von Gewalt und Gegengewalt das Bemühen darum, das Phänomen der deutschen Besatzung als „asymmetrische Interaktion“ zu interpretieren und die Entfesselung des Bruchs humanitärer und rechtlicher Standards quasi analytisch zu entschärfen: „Diese Studie“, heißt es zu Beginn, „spricht daher von unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit, nicht aber von ,Kollaboration‘, weil das Handeln und die Deutungen der Akteur:innen der Zeit im Vordergrund stehen sollen; sie gilt es nachzuvollziehen und im analytischen Sinne zu verstehen.“
Genau dies lässt sich jedoch nicht in einer europäischen Perspektive beschreiben – zumindest nicht in einer, die nicht nach nationalen Voraussetzungen differenziert; dazu waren die Rahmenbedingungen der Länder, in denen die insgesamt 230 Millionen von den deutschen Besatzern unterjochten Menschen lebten, zu unterschiedlich: Klaus Kellmann hat in seinem Buch über die „Dimensionen der Mittäterschaft“ vor einigen Jahren deutlich gemacht, aus welch unterschiedlichen Motiven Menschen sich in den verschiedensten von den Deutschen besetzten Ländern zur Kollaboration mit den Besatzern gewinnen ließen, nicht zuletzt, weil die nationalsozialistische Kriegsführung sehr wohl zwischen ihrem rassistischen Gebaren in Osteuropa und dem Verhalten gegenüber besetzten Ländern wie beispielsweise Frankreich unterschied.
Es gab auch Sympathie mit den Besatzern
Viele der Menschen, die sich im besetzten Frankreich dazu entschlossen, keinen Widerstand zu leisten, ja gar aktiv mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, taten dies keinesfalls, „um ihre Überlebenschancen zu maximieren“, wie es womöglich im besetzten Polen oder anderen osteuropäischen Ländern galt. Bis heute sorgt die Sympathie vieler französischer Kollaborateure mit den Besatzern zu Verwerfungen in der nationalen „Meistererzählung“ – eine Sympathie, die der von den Deutschen ermordete Historiker Marc Bloch in seinem Buch über „Die seltsame Niederlage“ bereits als Zeitzeuge analysierte.
Wie wenig in Frankreich die Begriffe Collaboration und Résistance historisiert sind – ja fast möchte man sagen: historisierbar sind –, zeigen die jüngsten französischen Debatten um das im Frühjahr erschienene Buch „Le nom sur le mur“ von Hervé Le Tellier, bei denen es um Schuld und Verantwortung elsässischer Kollaborateure geht, die vorgeblich gegen ihren Willen („malgré nous“) das Verbrechen von Oradour verübten. Womöglich ist es ein sehr deutscher Ansatz, die aufgeladenen Begriffe im Sinne analytischer Strenge und Nüchternheit zu neutralisieren und einer europäischen Sichtweise auf die Geschichte das Wort zu reden, welche die nationalen Unterschiede und Befindlichkeiten mit Blick auf die deutsche Besetzung Europas in den Jahren 1939 bis 1945 ignoriert.
Zuzustimmen ist Tatjana Tönsmeyer in ihrem Bestreben, auf das dunkle Erbe des liberalen Europa unserer Tage aufmerksam zu machen. Dieses dark heritage liegt darin, dass die verschiedenen Kriege, die dieser Kontinent erlebte – und aktuell an seinem östlichen Rand wieder erlebt, worauf die Autorin ausdrücklich Bezug nimmt –, die betroffenen Menschen immer wieder zu Statisten degradierte, zur Passivität zwang und zu Opfern derer machte, welche Recht und Humanität verachte(te)n. Aber beruht nicht die Liberalität und Humanität Europas gerade darauf, dass Menschen immer wieder unter größten Gefahren gegen die Besatzer und gegen den ihnen aufgezwungenen Opferstatus aufbegehrten?
Dieser Aspekt kommt in Tatjana Tönsmeyers Darstellung Europas unter deutscher Besatzung etwas zu kurz. Dabei steht gerade der von ihr zu Beginn und am Ende zitierte Jean-Paul-Sartre für den Protest gegen Entmenschlichung und Versteinerung der Besetzten: Zwei Monate, bevor er „Paris unter deutscher Besatzung“ veröffentlichte, hatte er den provokativen Satz geschrieben: „Niemals waren wir freier als unter deutscher Besatzung“, und er fuhr fort: „Da das Nazi-Gift bis in unser Denken eindrang, war jeder richtige Gedanke eine Eroberung.“ Ist es nicht – gerade angesichts der aktuellen Deutungskämpfe um die Geschichte des 20. Jahrhunderts – dieses Erbe der dunklen Jahre, das es mit der Erinnerung an Besatzung und Unterdrückung zu verbinden gilt?
Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.