Süddeutsche Zeitung

NS-Zeit:Erweckt vom "Führer"

Der Historiker Manfred Gailus sieht das Dritte Reich weniger als Säkularisierungs- denn als religiöse Erneuerungszeit - zumindest in der ersten Zeit nach 1933. Das widerspricht ganz klar dem Selbstbild der Kirchen.

Von Matthias Drobinski

Welch ein Glauben, welche Begeisterung. "Es war ein herrliches Bild, als am letzten Sonntagnachmittag 54 SA-Hochzeitspaare unter Vorantritt der Fahnen der Ortsgruppe Schill und unter den Klängen des Präludiums ,Großer Gott, wir loben Dich' die Zwölf-Apostel-Kirche betraten", schreibt der Berichterstatter der Kirchenzeitung Sonntagsblatt im August 1933 über die Zeremonie in der in Berlin-Schöneberg gelegenen Gemeinde. Der Pfarrer predigte über ewige Treue; es gab Grüße von der Reichsleitung der "Deutschen Christen" - die SA möge der Kirche "neuen kämpferischen Geist" einhauchen. Vier solcher Sammeltrauungen bislang kirchenferner SA-Paare gab es 1933 allein in dieser Gemeinde, die den "Deutschen Christen" nahestand - die "Deutschen Christen" strebten eine nationalsozialistisch durchglühte Reichskirche an. In der Tempelhofer Glaubenskirche erhielten im September 1933 gar 94 Paare aus SA und NSDAP per Massentrauung den kirchlichen Segen.

Wenn es um die Religiosität im Dritten Reich geht, wird oft auf die Säkularisierungstendenzen verwiesen, die sich unter den Nationalsozialisten fortsetzten oder sogar beschleunigten, als Teil der paradoxen Modernisierung in einer Diktatur mit totalitärem Anspruch. Der NS-Staat und die NSDAP schufen ihre eigenen postchristlichen Rituale, gingen gegen Konfessionsschulen und Schulkreuze vor, drängten kirchliche Verbände auf den innerkirchlichen Bereich zurück, versuchten, gewachsene Kirchenstrukturen zu zerschlagen. Und waren nicht gerade in traditionell katholischen Gebieten die Zustimmungsraten zu den Nationalsozialisten am niedrigsten, in jenen mit der geringste Kirchenbindung am höchsten? Nach dem Krieg entstand daraus die Selbstdarstellung der Kirchen: Man habe es zwar bis auf rühmliche Ausnahmen an direktem politischem Widerstand gegen Diktatur und Judenmord missen lassen, aber doch in struktureller Distanz und auch Opposition zum Nationalsozialismus gelebt.

Hauptsache weg von dieser "Gottlosenrepublik"

Der Historiker Manfred Gailus, außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, entwickelt in seinem Buch "Gläubige Zeiten" eine andere Perspektive: Wenn über die ganze Hitlerzeit hinweg 95 Prozent der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen angehörten, bekommt die Säkularisierungsthese Risse. Vor allem in den ersten Jahren der NS-Herrschaft konstatiert Gailus ganz im Gegenteil die Wiederkehr der Religion ins Leben der Deutschen, beschreibt eine weit verbreitete religiöse Erweckungsbewegung, vor allem im Umbruchsjahr 1933. Viele christliche Zeitgenossen hätten das neue Reich "als Auftakt eines religious revival, als wundergleiche Erfüllung lang gehegter Erwartungen" erfahren - weg von der verhassten Weimarer Demokratie, dieser "Gottlosenrepublik", hin zu einem neuen Deutschland mit neu erwachter Gläubigkeit.

Gerade für diese emotional hoch aufgeladene Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft bringt Gailus zahlreiche und gute Belege, besonders aus Berlin; schon in seiner Habilitation 1999 erforschte er die "nationalsozialistische Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus" in der Reichshauptstadt. Zahlreiche religiöse Schriften widmen sich ab 1933 dem angeblich neuen Verhältnis von Glaube und Kirche zu Nation, Volk und Rasse; sie behandeln die "totale Kirche im totalen Staat" oder "die Judenfrage", vergleichen Adolf Hitler und Martin Luther, stellen "Luthers Kampf gegen die Juden" heraus. Deutschchristen-Pfarrer und SA besetzen Freidenker-Büros; Massentaufen und Massenhochzeiten von NS- Und SA-Mitgliedern sollen das neue Bündnis festigen. Konfessionslose stehen unter Marxismusverdacht.

Interessant ist auch der Blick, den Gailus auf die neureligiösen völkischen Glaubensbewegungen wirft, die "Deutsche Glaubensbewegung" und die Ludendorff-Bewegung, benannt nach dem General aus dem Ersten Weltkrieg. Gailus sieht sie als Teil der großen völkisch-religiösen (und selbstverständlich antisemitischen) Erweckungsbewegung dieser Zeit; obwohl sie mit ihren jeweils weniger als 100 000 Mitgliedern letztlich marginal blieben, wurde sie doch von den Kirchen als "neuheidnische" Konkurrenz und Bedrohung wahrgenommen. Mehr Anhänger gewannen die "Gottgläubigen" - ideologisch gefestigte Nationalsozialisten, die die NS-Bewegung als postkonfessionelle religiöse Heimat ansahen, mit einem deutschen Heldengott, stark, mitleidlos, gewaltig. Doch auch sie waren keine echte Konkurrenz für die christlichen Volkskirchen, erst recht, als in den Kriegsjahren von 1943 an der Nazi-Siegergott immer kläglicher dastand.

Der Fokus der Analyse liegt auf der Reichshauptstadt

Es waren die Christen, die das Fundament des NS-Systems bildeten, als überzeugte und halbüberzeugte Nazis, als Mitläufer und schweigende Menge, als stumm Distanzierte - das ist das Fazit des Buches. Gailus beschreibt sehr wohl den Widerstand der evangelischen wie katholischen Christen, erinnert zum Beispiel an den Wuppertaler reformierten Theologe Helmut Hesse, der 1943 predigte: "Als Christen können wir es nicht länger ertragen, dass die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt" - und dafür im Konzentrationslager Dachau starb. Für Gailus aber sind das größere Ausnahmen und kleinere Minderheiten, als es die Kirchen gemeinhin darstellen. Die Christen stellten sich am 9. November 1938 nicht zu Tausenden schützend vor die Synagogen, die ein entfesselter Mob in Brand setzte, sie verweigerten im Herbst 1939 beim Überfall auf Polen nicht massenhaft den Kriegsdienst. Die Katholiken hielten eindeutig größere Distanz zu den Nationalsozialisten - doch beim "Anschluss" Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland standen auch Österreichs Katholiken jubelnd an den Straßen.

Die Schwäche des Buches ist, dass sein Detail- und Materialreichtum mit jedem Kilometer abnimmt, mit dem der Autor sich aus Berlin entfernt. In der evangelischen Kirche kennt der Autor sich hervorragend aus, der Katholizismus kommt da manchmal nur pauschal betrachtet vor - dabei wären zum Beispiel die vorhandenen Forschungen über die Resistenz gerade reaktionär katholischer Milieus interessant gewesen, wo man gegen die Nazis war, weil sie die unzüchtige und gottlose Moderne brachten.

Den Wert dieses kritischen Blicks auf die "Gläubigen Zeiten" ab 1933 aber mindert das nicht.

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SZ vom 22.11.2021
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