Handbuch der deutschen Geschichte:Die Vernichtung

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Morden, plündern, brandschatzen: Litauische Dorfbevölkerung sieht beim Brand einer jüdischen Synagoge zu. Rechts stehen Soldaten der Wehrmacht. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Dieter Pohl hat akribisch die neuesten Forschungen zu NS-Verbrechen seit 1939 zusammengetragen. Die Nüchternheit der Darstellung entfaltet eine Chronologie des Grauens.

Von René Schlott

1891/92 gab der Breslauer Gymnasiallehrer Bruno Gebhardt erstmals ein zweibändiges Handbuch zur deutschen Geschichte heraus. In den folgenden Jahrzehnten erschienen immer wieder neue, aktualisierte und erweiterte Ausgaben dieses Handbuchs aus der Feder führender Historiker. Der ursprünglich für den Schulgebrauch gedachte "Gebhardt" avancierte zu einem Standardwerk für die akademische Fachöffentlichkeit und richtete sich später auch an ein breiteres Publikum.

Seit 2004 erscheint im Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag die inzwischen zehnte Auflage des "Gebhardt", der innerhalb von gut 130 Jahren von zwei auf nun 24 Bände angewachsen ist. Der Anspruch dieser neuen Ausgabe konnte im Vorwort der Herausgeber nicht hoch genug formuliert werden. Demnach "fußt" jeder einzelne Band "auf dem modernen Forschungsstand; er führt in die Forschungsliteratur ein, die er ausführlich zitiert; er wählt das Wesentliche aus und bietet Gesichtspunkte zu vielfältiger Interpretation (...) Er bezeichnet aber auch Lücken im Forschungsstand, identifiziert das Fragwürdige, stellt sich Kontroversen und weist auf offene Probleme hin."

Schon vor zehn Jahren sollte der Band erscheinen

Der gerade erschienene Band 20, der sich den nationalsozialistischen Verbrechen von 1939 bis 1945 widmet, wird, so viel sei vorweggenommen, diesen nicht gerade geringen Anforderungen vollauf gerecht. Sein Verfasser ist der Klagenfurter Professor Dieter Pohl, ein anerkannter Experte für die NS-Geschichte, der sich schon in seiner Dissertation und auch in der Habilitation mit Lokalstudien zum Holocaust in den besetzten sowjetischen Gebieten beschäftigt hat. Angekündigt war der Band bereits für den November 2012, damals noch unter dem enger gefassten Titel "Judenverfolgung und Holocaust 1933 - 1945". Pohl, Verfasser eines älteren, inzwischen in dritter Auflage vorliegenden Lehrbuchs zu "Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933 - 1945", entschied sich aber offenbar zwischenzeitlich, die Perspektive zu weiten und über eine isolierte Betrachtung des Judenmords hinaus möglichst viele NS-Verbrechen in den Blick zu nehmen.

Mit diesem umfassenden Ansatz, der besonders geeignet ist, die vielfältigen Parallelen, etwa zwischen rassistischer und politischer Verfolgung, aufzuzeigen und die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Verbrechenskomplexen, etwa zwischen dem Holocaust und dem Krankenmord, offenzulegen, ist der Band eine echte Innovation. Die zehnjährige Verspätung gereicht seinem Inhalt auch sonst nicht zum Nachteil, denn gerade im intensiv beforschten Feld der NS-Verbrechen gab es in den vergangenen Jahren eine hohe Dynamik neuer Erkenntnisse, Methoden, Fragestellungen und intensiver Debatten. Auch wenn die letzte Kontroverse um den Zusammenhang von Kolonialismus und Holocaust in dem im Juni 2021 abgeschlossenen Manuskript keinen Eingang mehr gefunden hat.

Früher war der Holocaust nur ein Seitenaspekt

Welcher Paradigmenwechsel in der Geschichtsforschung in den vergangenen Jahrzehnten erfolgte, lässt sich mit Blick auf die vorangegangene Ausgabe des "Gebhardt" ermessen. In der 1976 erschienenen neunten Auflage wurden die NS-Verbrechen noch in einem Unterkapitel im Band "Die Zeit der Weltkriege" auf sechs Seiten unter der Überschrift "Judenvernichtung und 'Ausmerzung lebensunwerten Lebens'" abgehandelt. Die deutsche Geschichtswissenschaft interessierte sich nach Kriegsende fast ausschließlich für den Aufstieg des Nationalsozialismus und seine inneren Machtstrukturen. Im Judenmord sah man nur einen Seitenaspekt der NS-Herrschaft, der in den Kontext des Zweiten Weltkrieges gehörte. Innerhalb der letzten vierzig Jahre aber avancierte die Beschäftigung mit den NS-Verbrechen, insbesondere aber mit dem Holocaust, zu einem zentralen Gegenstand der Forschung. Heute sieht man in den extremen Massenverbrechen eines, wenn nicht das zentrale Charakteristikum der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945.

Pohl nimmt in seiner über eine reine Nationalgeschichte aber hinausgehenden, von Norwegen bis zu den griechischen Inseln reichenden europäisch perspektivierten Darstellung alle Opfergruppen politischer und rassistischer Verfolgung in den Blick: von den Nationalsozialisten als "Juden", "Zigeuner", "Asoziale" und "lebensunwert" definierte Menschen genauso wie Angehörige der Zeugen Jehovas und Homosexuelle. Besatzungs- und Umsiedlungsunrecht, etwa an der polnischen Bevölkerung, spielt genauso eine Rolle wie Medizin- und Justizverbrechen, die Verschleppung osteuropäischer Kinder, der mörderische Umgang mit Zwangsarbeitern und der Tod von Millionen Kriegsgefangenen, vor allem aus der Sowjetunion und aus Italien. Pohl aber liegt jede Nivellierung der unterschiedlichen Vernichtungskomplexe fern, unmissverständlich macht er klar, dass "im Zentrum der NS-deutschen Verbrechen (...) zweifellos der Mord an den europäischen Juden" steht. Dem Holocaust ist mit gut einhundert Seiten auch das umfangsreichste Kapitel des Bandes gewidmet, das selbst das Schicksal der Juden in Libyen und auf den Kanalinseln anreißt.

Rechtsfreie Räume für straflosen Mord

Unter dem Plural "Vorgeschichten" fasst Pohl die Voraussetzungen und Ursachen für die NS-Massengewalt zusammen: ein spezifischer NS-Rassismus, der biologische, religiöse, nationale, kulturelle und ökonomische Elemente amalgamierte, Ausgrenzungsdiskurse, die Veralltäglichung von Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg und eine Aushöhlung des Rechtsstaates, die in die Etablierung rechtsfreier Räume mündete, in denen straflos gemordet werden konnte. "Autoritäre und totalitäre Ordnungsmodelle gewannen breit an Akzeptanz, d. h. nicht nur die Demokratie verlor an Anhängerschaft, sondern auch der Rechtsstaat und damit der Schutz der Freiheit des einzelnen", konstatiert Pohl bereits für die Weimarer Krisenjahre.

Nicht erst der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und der Übergang zur systematischen Vernichtung, sondern der Angriff auf Polen im September 1939 stellt laut Pohl die eigentliche Zäsur von der Gewalt zum Massenmord dar. Denn mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die bislang reichsweite Verfolgungspolitik "exportiert und radikalisiert". Die Elemente, Praktiken und Organisationsformen der späteren Vernichtungspolitik, die ihre weitaus meisten Opfer im zweiten Halbjahr 1942 forderte, hatten sich jedoch schon bis Mitte 1941 etabliert. Das dabei notwendige Zusammenspiel zwischen Wehrmacht, SS, Polizei, zivilen Besatzungsbehörden und örtlicher Verwaltung sowie wissenschaftlichen Experten funktionierte weitgehend reibungslos.

Dieter Pohl: Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Band 20: Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 408 Seiten, 45 Euro. (Foto: Klett-Cotta)

In nahezu allen Staaten im Machtbereich des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten kollaborierten Regierungen und Bevölkerungen bei den deutschen Massenverbrechen. Rumänien entfesselte aus Sicht Pohls sogar "einen eigenen Vernichtungskrieg im eigenen Land und in der Sowjetunion". Das Buch enthält in dieser Hinsicht nur wenige "Lichtblicke": In Griechenland und Dänemark existierten wirksame, von den (Exil-)Regierungen unterstützte Hilfsnetzwerke im Untergrund, in Albanien und Finnland gab es nahezu keine Judenverfolgung, aus Bulgarien konnten Anfang 1943 4500 jüdische Kinder nach Palästina gebracht werden.

Orte, Daten, Täternamen

Wie alle Bände der Neuauflage des "Gebhardt" ist auch der Band von Pohl äußerlich hochwertig mit rotem Leineneinband und eingelassenem farbigen Titelbild (das in diesem Fall eine Straßenszene aus dem Ghetto Lodz zeigt), ausgestattet. Im Inneren aber offenbart er den Abgrund eines präzedenzlosen Zivilisationsbruches. Und so lässt sich das Buch kaum in einem Stück lesen. Ein Verbrechen reiht sich nahtlos an das andere, die Liste der Massaker scheint endlos, die Dichte der Zahlen zu den Todesopfern ist für den Einzelnen kaum fassbar. Pohl verzichtet auf jedes narrative Element, etwa Auszüge aus persönlichen Berichten Überlebender, und beschränkt sich fast ausschließlich auf die Chronologie der Fakten: Orte, Daten, Täternamen. Sein manchmal bürokratisch anmutender Zugang ist aber kein Manko, sondern dem Gegenstand und dem Handbuchcharakter geschuldet. Denn die nüchterne Analyse und die akribische Darstellung verfolgen vor allem das Ziel, das in den vergangenen Jahrzehnten von vielen einzelnen Forscherinnen und Forschern weltweit gewonnene Wissen zu den verschiedenen NS-Verbrechenskomplexen an einem Ort zusammenzuführen und so für kommende Generationen zu sichern.

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