Wenn sich alle Zahlen und Fakten, die in den letzten Wochen in diesem Prozess auf den Tisch gekommen sind, in Wassertropfen verwandeln würden, als Beispiel nur, dann stünde man hier, in dieser zum Gerichtssaal umfunktionierten Turnhalle in Brandenburg an der Havel, längst knietief im Wasser. Nur einer bliebe ganz im Trockenen, der Angeklagte Josef S. nämlich, der in einer Taucherglocke zu sitzen scheint, jedenfalls prallen die Faktentropfen ab, und er bleibt auch an diesem Donnerstag bei seiner Version der Wahrheit. Die geht so: Nein, im KZ Sachsenhausen sei er nie gewesen. Er habe nach der Umsiedlung aus Litauen den ganzen Krieg durch in der Landwirtschaft gearbeitet, habe "Bäume gerodet, Bäume gepflanzt", Zuckerrüben angebaut, nie eine deutsche Uniform getragen, nie eine Waffe, sondern einen "Arbeitsanzug." In Kolberg in Hinterpommern hätte er den Einmarsch der Roten Armee erlebt. "Hände hoch!" habe es da geheißen.
Die Erklärung des Josef S., vorgetragen durch dessen Verteidiger Stefan Waterkamp, war lange erwartet worden. Überlebende haben hier im Zeugenstuhl gesessen und hätten ein Bekenntnis gebraucht, Söhne von Opfern. Bei Josef S. jedoch hat sich kaum etwas bewegt, jedenfalls nichts, was man von außen hätte sehen können. Mitte November ist er 101 geworden. Er ist angeklagt der Beihilfe zu 3518 Morden im Konzentrationslager Sachsenhausen. Taten, die für den Zeitraum von Oktober 1941 bis Ende Februar 1945, in dem Josef S. dort in sechs verschiedenen Kompanien des Wachbataillons der SS diente, sicher festgemacht werden können.

Stutthof-Prozess:Was die frühere KZ-Sekretärin gewusst haben könnte
Im Itzehoer Verfahren erklärt ein Experte, dass über ihren Schreibtisch wohl auch Exekutionen und Deportationen gingen.
Thomas Walther, Vertreter vieler Nebenkläger, spricht von der "Flucht in eine Traumwelt", wodurch sich der Angeklagte auch "von einer schweren Last" befreie.
Dem Vorsitzenden Richter Udo Lechtermann fällt auch am 13. Verhandlungstag noch etwas ein, was der Erinnerung des Angeklagten auf die Sprünge helfen könnte. Er liest dessen Rentenantrag an die Sozialversicherung der DDR von 1985 vor. Auf der Rückseite eines der Blätter sind handschriftlich die Lebensstationen des Antragstellers Josef S. aufgelistet. Schule, Arbeit im elterlichen Betrieb, Lehre. Für die Zeit von 1940 bis 1945 steht da: "Wehr- und Kriegsdienst", also nicht Roden und Rübenernte. "Ich entnehme diesem Schreiben, dass Sie das selbst geschrieben haben", sagt Lechtermann mit einer Stimme, die sich leicht ins Ungemütliche neigt.
"Das war alles von den Frauen in der LPG schon ausgefüllt", sagt Josef S., er habe nur noch unterschreiben müssen. Ja, woher die Frauen das denn alles gewusst hätten, will Lechtermann wissen. "Die haben alles jewusst, schwarz auf weiß, war alles fertig, weiter was weiß ich nicht."

Dass "die" alles gewusst haben, ist nicht ganz falsch, jedenfalls in Bezug auf die Staatssicherheit, die Josef S.' Vergangenheit kannte und ihr sehr genau nachspürte. Dass er den Rentenantrag mit den Lebensstationen jedoch eigenhändig ausgefüllt hat - dafür wird es wohl keinen Schriftsachverständigen brauchen.
Und dann ist wieder der Historiker Stefan Hördler dran. Er kann sogar das direkte Umfeld des Josef S.' in den Kompanien des SS-Wachbataillons Sachsenhausen beleuchten, die Vorgesetzten, Männer, die mit Josef S. zur gleichen Zeit dort waren. Josef S. meldet sich zu Wort, schüttelt den Kopf, sagt, "dass hier alles so verdreht" werde, "ich verstehe das nicht."
Lechtermann wird nun doch ungemütlich. "Jetzt hören Sie mal dem Sachverständigen zu", ermahnt er den Angeklagten. "Jawoll!", sagt Josef S., "mach' ich!" Es klingt zackig, schmissig, nach Stiefelknallen. Wie aus der Pistole geschossen. Es klingt nicht nach Säge, Axt und Rübenmesser.