Anklage im NS-Prozess:"Können Sie mich verstehen?" - "Ja"

Anklage im NS-Prozess: Die Angeklagte Irmgard F. wird im Rollstuhl in den Saal geschoben.

Die Angeklagte Irmgard F. wird im Rollstuhl in den Saal geschoben.

(Foto: Christian Charisius/AFP)

Der Prozess gegen die 96-jährige frühere Sekretärin des KZ Stutthof startet vor dem Landgericht Itzehoe. Er ist einer der letzten Versuche, NS-Unrecht aufzuarbeiten.

Von Peter Burghardt, Itzehoe

Da ist sie nun. Irmgard F., 96 Jahre alt, die als junge Frau im KZ Stutthof bei Danzig die Schreibarbeit erledigte und jetzt als mutmaßliche Helferin der Mordmaschinerie vor dem Landgericht Itzehoe angeklagt ist. Als dieser NS-Prozess, einer der letzten weltweit, Ende September beginnen sollte, da blieb ihr Platz zum Erstaunen der Beobachter leer. Die Angeklagte war vor dem Termin aus ihrem Pflegeheim in Quickborn bei Hamburg abgehauen, die Polizei griff sie Stunden später an einer Straße auf, das Landgericht Itzehoe erließ vorübergehend Haftbefehl. Diesmal wird sie in diesen umgebauten Saal geschoben.

Ein trüber Vormittag im Industriegebiet von Itzehoe, Schleswig-Holstein. Das Landgericht ist in das China Logistic Center gezogen, um die Reporter und Zuschauer unterzubringen. Erster Stock, niedrige Decken, grauer Teppichboden. Draußen stehen Demonstranten, eine Mahnwache, daneben Polizisten. "Über 11 000 Morde verjähren nicht", ist auf einem Transparent zu lesen. "Kein Vergeben, kein Vergessen. Stutthof 1939-45. Nie wieder." Drinnen lehnt Irmgard F. im blauen Rollstuhl zwischen Plexiglasscheiben, die sie vor Viren schützen sollen; bei ihr sind eine Ärztin und ihr Verteidiger. Zunächst ist F. mit Gurten angeschnallt, trägt vor Nase und Mund eine Maske. Ein Kopftuch bedeckt ihr graues Haar, eine Sonnenbrille hat sie auch aufgesetzt.

Das alles nimmt sie ab, als die Kameras ausgeschaltet sind und es losgeht. "Die Angeklagte ist anwesend", sagt Dominik Groß, der Vorsitzende Richter, und lässt sich ihre Personalien bestätigen. "Können Sie mich verstehen?", fragt er. "Ja", erwidert sie. Viel mehr hört man von ihr nicht. Irmgard F., geboren 1925 in der Nähe von Danzig, Deutsche, wohnhaft in einer norddeutschen Seniorenunterkunft, verwitwet, Rentnerin. Dann wird die Anklage verlesen.

Die Staatsanwaltschaft wirft Irmgard F. vor, von Juni 1943 bis April 1945 Beihilfe zum Mord in mehr als 11 000 Fällen geleistet zu haben. Sie war die Sekretärin des KZ-Kommandanten und SS-Sturmbannführers Paul Werner Hoppe. Sie habe "die reibungslose Funktionstüchtigkeit des Lagers gesichert", sagt die Staatsanwältin. Sie habe Kenntnis von der systematischen Tötung gehabt, dem staatlich angeordneten Massenmord, "teilweise bis ins Detail".

Das Gesicht der Beschuldigten bleibt meistens unbewegt

Die Anklägerin berichtet in Einzelheiten von den Genickschussanlagen, bei denen die Opfer mit dem Hinweis getäuscht worden waren, sie würden vermessen. Vom qualvollen Tod in der Gaskammer mit Zyklon B, den verkrampften, verfärbten Körpern. Vom Fleckfieber und den anderen tödlichen Bedingungen in Stutthof, dem Krematorium und dem Scheiterhaufen, den Deportationen nach Auschwitz.

Die Stenotypistin F. war damals anfangs 18, dann 19 Jahre alt. Verhandelt wird deshalb vor der Jugendkammer, obwohl seither mehr als ein Dreivierteljahrhundert vergangen ist. Das Gesicht der Beschuldigten bleibt meistens unbewegt, manchmal sind Regungen zu erkennen, sie fährt sich mit der Hand über Wangen und Augen. Wenn sie auf die Toilette muss, werden kurze Pausen gemacht. Ohnehin dauern die Sitzungen jeweils nur maximal zwei Stunden.

Irmgard F. hat kürzlich wieder gesagt, dass sie sich keinerlei Schuld bewusst sei, dass sie nichts gewusst habe. Im Prozess gegen ihren 1957 verurteilten und bald entlassenen Chef Hoppe und auch danach war sie mehrfach Zeugin gewesen, die ehemaligen Aussagen dürfen nicht verwendet werden. In der Verhandlung sagt sie nichts. Sie werde auch keine Fragen beantworten, erklärt ihr Anwalt Wolf Molkentin und gibt ein schriftliches Statement ab. Er erkennt die Wichtigkeit des Prozesses für die Opfer, er stellt "das furchtbare Mordgeschehen" nicht in Abrede. Seine Mandantin leugne die Verbrechen nicht, aber Molkentin äußert Zweifel an ihrer Mitverantwortung.

Das Landgericht erkennt einen hinreichenden Tatverdacht, in der kommenden Woche fängt die Beweisaufnahme an. Mehrere Vertreter der 30 Nebenkläger, Überlebende und Angehörige der Toten, fordern eine Ortsbegehung in Stutthof. Alle in dem KZ hätten "akustisch und visuell eindeutig zwingend mitbekommen, was dort geschah", sagt der Anwalt Christoph Rückel.

Die Justiz habe lange genug Strafvereitelung betrieben, sagt ein Anwalt

Über diese Begehung, diese Reise nach Stutthof will das Gericht noch beraten. Es gibt fürs Erste dem Antrag statt, dass die Hauptverhandlung aufgezeichnet wird. Das Verfahren habe "herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung". Eben deshalb befremdet es Hans-Jürgen Förster, den Anwalt von Nebenklägern aus Israel und Australien, dass er diesen Antrag auf Mitschnitt überhaupt stellen musste.

Ohnehin wundert sich mancher, wie kleinteilig der Richter Groß bei den Anträgen vorgeht. Man müsse sich der Thematik bewusst sein, sagt Anwalt Förster. Der Kollege Mehmet Daimagüler, der die Stutthof-Überlebende Marga Griesbach vertritt, wird noch deutlicher: Es gehe hier um keinen Ladendiebstahl, sondern um einen der letzten Versuche, NS-Unrecht aufzuarbeiten. Die Justiz sei lange genug Strafvereitelungsbetrieb gewesen, die Überlebenden hätten ein Leben lang gewartet. Jetzt warten sie auf den Verhandlungstag am kommenden Dienstag.

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