Auschwitz-Prozess in Lüneburg:Vergebung ist ein gesetzloses Wunder

Eva Kor und Oskar Gröning

Die Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, Eva Kor, reicht dem früheren SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg die Hand zur Versöhnung.

(Foto: dpa)

Die KZ-Überlebende Eva Kor hat dem Angeklagten im Auschwitz-Prozess die Hand gereicht. Das Unverzeihliche verzeihen, ist das möglich? Es ist unfassbar, es ist Gnade.

Kommentar von Heribert Prantl

Oskar Gröning, angeklagt der dreihunderttausendfachen Beihilfe zum Mord in Auschwitz, hat vor Gericht um Vergebung gebeten. Kann man das Ungeheuerliche vergeben? Darf man es vergeben? Wer kann vergeben?

Das Gericht, die Richter - sie können es nicht. Die Macht der Vergebung ist dem Gericht nicht gegeben. Richter müssen Schuld oder Unschuld feststellen; sie können bei erwiesener Schuld die Strafe bemessen, "Im Namen des Volkes" steht über ihrem Urteil.

Im Namen des Volkes zu vergeben: Das geht ganz generell nicht, und schon gar nicht bei einem Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust, bei dem Zigtausende Täter aus diesem Volk stammen. Vergebung ist kein staatlicher, sondern ein intimer Akt, eine Kommunikation zwischen Täter und Opfer.

Ist die Verzeihung des Unverzeihlichen möglich?

In jeder Strafe steckt eine Spur von Vergeltung, von Sühne und von Abschreckung. Vergeltung ist das Gegenteil von Vergebung. Vergeben kann nur der Verletzte, der Missachtete, der Geschundene, Gepeinigte. Eine Überlebende von Auschwitz, Nebenklägerin im Prozess, hat nun dem Angeklagten vergeben: Eva Mozes Kor. Sie ist auf den Angeklagten zugegangen, hat ihm die Hand gereicht. Schon einige Zeit vor dem Prozess hatte sie gesagt: "Ich habe den größten Teil meines Lebens gelitten. Erst unter den Nazis, dann unter meinem Hass auf die Nazis."

Als sie einen SS-Arzt traf, der seine Untaten bereute, hat sie das bewogen, ihm zu vergeben. "Ich habe einfach allen Nazis vergeben", erklärt sie; "und sie konnten sich noch nicht einmal dagegen wehren." Das ist kein bitterer Spott, das ist keine Pointe; das ist Gnade.

Andere Überlebende, andere Opfer kritisieren diesen Akt der Vergebung heftigst. Steht er nicht im Widerspruch zum Wesen der Nazi-Untaten und zu ihrer Dimension? Ist die Verzeihung des Unverzeihlichen möglich? Indes: Die alte Frau Kor hat keine Erklärung im Namen der Opfer, der anderen Überlebenden, der Nebenkläger im Verfahren, abgegeben; nur persönlich hat sie vergeben, für die Taten, die an ihr selbst begangen wurden. Es ist auch dies, angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen, etwas Unfassbares.

Und wer dürfte dieser Frau vorhalten, dass sie für ihr Vergeben die große Bühne, den Gerichtssaal und das Fernsehen, gewählt hat? Vergeben ist eine höchstpersönliche Gabe; sie entzieht sich dem zugreifenden Objektivierungs- und Beurteilungsvorgang. Wie Vergebung gewährt wird, ist Sache des Vergebenden. Darüber soll man nicht rechten, weil es kein Recht auf Vergebung gibt.

Darf nun eine Frau, die dem Täter vergibt, weiterhin noch Nebenklägerin im Strafprozess sein? Gewiss. Sie kann vergeben und bezeugen. Es geht im Prozess um die Feststellung der Schuld des Angeklagten. Es ist Teil der souveränen Besonderheit der Vergebung, dass sie der rechtskräftigen Feststellung der Fakten und der strafrechtlichen Schuld auch vorausgreifen kann.

Vergebung passt eigentlich, hier zeigt es sich, nicht in die endliche Ordnung der Dinge; das macht sie zum Ereignis. Das macht sie zum gesetzlosen Wunder.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: