Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Alle Mordopfer im Blick

Der britische Historiker Alex J. Kay schildert die NS-Vernichtungspolitik in ihrer Gesamtheit. Der Holocaust wird im Zusammenhang mit der Tötung von Sinti und Roma, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen Gruppen gesehen. Ein verdienstvoller Tabubruch.

Rezension von Wolfgang Benz

Vernichtung als literarische Metapher, als politische Kategorie, als ideologisch begründeter Machtanspruch war eine zentrale Denkfigur im 20. Jahrhundert. In sozialdarwinistischen, rassistischen Formulierungen zur "Lösung" der "Judenfrage" ins 19. Jahrhundert zurückreichend, im Ersten Weltkrieg exzessiv gelebt und im Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin im Massenrausch gesteigert, kulminierten die Vorstellungen von Vernichtung im deutschen Rassenkrieg gegen Juden, Roma, Slawen, gegen soziale und ethnische Gruppen und ganze Völker, die als "lebensunwert" definiert wurden.

Der Blick auf Traditionen des Denkens und Handelns einer Mehrheit der Deutschen ist so notwendig wie die exakte Beschreibung der Gewalt, die verübt worden ist und auf welche Weise dies geschah. Statt abstrakter Theorie oder larmoyanter Emotion, unter Verzicht auf Konstruktionen, die das Böse in prädestinierten Landschaften ("Bloodlands") verorten, ist die Schilderung tatsächlichen Geschehens Pflicht des Historikers, die Verstehen fördert und Erklärung ermöglicht.

Kays integrativer Ansatz ist nicht neu, aber sinnvoll

Dieser Tugend befleißigt sich der Autor Alex J. Kay. Trotzdem ist das Buch ohne ragende Thesen ein Tabubruch. Der Tabubruch, die Leistung, des britischen Historikers besteht darin, dass er den Holocaust im Zusammenhang mit der Gewalt gegen andere Opfergruppen, dem Massenmord an 13 Millionen Bürgerinnen und Bürgern Europas betrachtet.

Unnötiger Schwulst schwächt freilich den Titel des Buches, auch der Untertitel ("Gesamtgeschichte") ist eher bemüht als originell. Schlimmer sind die Verheißungen der Werbepoesie, nach der Alex J. Kay "die erste integrative, umfassende Geschichte des nationalsozialistischen Massenmordes" geschrieben habe. Unter dem redlichen Titel "Nationalsozialistische Verbrechen 1933-1945" ist kürzlich Dieter Pohls Darstellung in gleichem Ansatz ohne Getöse erschienen und an dieser Stelle zu Recht gepriesen worden.

Kay spannt den Bogen vom Krankenmord, der im Sommer 1939 begann, über die Vernichtung der polnischen Intelligenz, den Judenmord der Einsatzgruppen, den geplanten Untergang der sowjetischen Kriegsgefangenen und die Aushungerung sowjetischer Städte, den Terror gegen die Zivilbevölkerung im Osten zum Holocaust. Der Judenmord, paradigmatisch in der "Aktion Reinhardt" und Auschwitz beleuchtet, ist im Zusammenhang mit dem Roma-Genozid betrachtet und die Darstellung ist flankiert mit der Fortdauer der angeblich gestoppten "Euthanasie" im Deutschen Reich und beschlossen mit der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes (der nationalen Erhebung der Polen 1944, nicht der ebenfalls durch deutsche Brutalität zermalmten jüdischen Gegenwehr des Ghettos im Jahr zuvor).

Vertreter einer ausschließlich eifernden politischen Moral mit ausschließendem Blick werden die Nase rümpfen und den jungen Historiker, der vermeintlich den Holocaust relativiert, mit dem Verdikt belegen, das vor Jahrzehnten schon Martin Broszat traf, der eine Historisierung des Judenmords, das heißt dessen Betrachtung im Kontext der Geschichte nationalsozialistischer Gewalt propagierte. Auch Broszat hatte es ferngelegen, die Einzigartigkeit des Holocaust infrage zu stellen. Aber Moralisten und Geschichtsdeuter aus Emotion sind wirkmächtiger als Historiker.

Was Hitler aussprach, wurde gebilligt

Dem Autor der gut geschriebenen, reich mit Belegen versehenen und aus dem Englischen vorzüglich übersetzten Studie geht es darum, das Prinzip Vernichtung durch staatliche Gewalt in seiner ganzen Breite darzustellen, und dazu gehört die Akzeptanz, mit der die Deutschen der Ideologie des Nationalsozialismus begegneten. Nicht der Sieg über Feinde, vielmehr deren Vernichtung, das "Ausmerzen" und Ausrotten wurde als nationalsozialistisches Prinzip propagiert, etwa in der Reichstagssitzung am 30. Januar 1939, in der Hitler die berühmte Drohung gegen die Juden öffentlich ausstieß. Das war nicht dahingesagt, das hat er unter dem Jubel vieler Zuhörer in den folgenden Jahren mehrmals wiederholt, er wollte es als Prophezeiung und Programm gewertet wissen, und so wurde es verstanden.

So schrieb ein Unteroffizier der Wehrmacht von der Ostfront, man müsse "hier die Wurzel allen Übels ausreißen" und "die jüdisch-bolschewistische Zentrale vernichten". Der "Bolschewist" in Gestalt "des Russen" war nicht weniger gehasst und verachtet als "der Jude". Der Krieg gegen die Sowjetunion war als Weltanschauungs-, Rassen- und Vernichtungskrieg geplant und geführt: Gegen den Bolschewismus als Ideologie, gegen die Völker der Sowjetunion als Angehörige vermeintlich minderwertiger Rassen, gegen die jedes Mittel bis zur vollkommenen Vernichtung als erlaubt galt. Die Deutschen - ganz gleich, ob sie Nationalsozialisten waren oder dem Regime kritisch gegenüberstanden - folgten, ohne zu zögern. Vielen genügte als Antrieb blinder Glaube und vollkommene Hingabe an die nationalsozialistische Führung, die meisten handelten im Einklang antikommunistischer Überzeugung mit dem Gefühl kultureller Überlegenheit und dem Bewusstsein, ihrem Vaterland zu dienen, ihre Pflicht zu tun, wenn sie gen Osten marschierten.

"Verschrottung" ganzer Völker geplant

Politische Kommissare, Juden und "fanatische Kommunisten" wurden sofort getötet, unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung war die Zivilbevölkerung jeder Willkür preisgegeben. Ein Pamphlet, verantwortet vom SS-Hauptamt, unterstützte propagandistisch die Mordbefehle aus Berlin. "Der Untermensch" lautete der Titel der Broschüre, die 1942 an der Ostfront verteilt wurde und den Zweck hatte, die zur Vernichtung bestimmten Personengruppen zu stigmatisieren.

Eingeübt war die Zerstörung menschlicher Existenz an Kranken. Unter Geheimhaltung, aber öffentlich propagiert als Beseitigung "lebensunwerten Lebens", verstanden als "Ausmerze", wurden von Herbst 1939 an die deutschen Heil- und Pflegeanstalten systematisch leergemordet. An den Schreibtischen des Imperiums des Reichsführers SS Himmler wurden derweilen Projekte wie der "Generalplan Ost" ausgeheckt, in denen von der "Verschrottung" ganzer Völker die Rede war. Am Ende des Buches zitiert Kay den Mörder Himmler, der sich im weinerlichen Pathos des zum Staatsmann geblähten Buchhalters vor SS-Offizieren, vor Generalen der Wehrmacht, vor Funktionären der NSDAP mit der schweren Last des Mordens brüstet.

Alex J. Kay prunkt nicht mit elaborierten Theorien oder bislang unbekannten Fakten. Er ordnet Fakten im historischen Kontext und macht den Zusammenhang deutlich. Das ist ein großes Verdienst.

Wolfgang Benz ist Zeithistoriker, von 1990 bis 2011 leitete er das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

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