Holocaust:Massiv motivierte Massenmörder

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Bahnhof Sobibór: Wer ins dortige Vernichtungslager deportiert wurde, hatte keine Überlebenschance. Jüdische Gefangene versuchten, Widerstand zu leisten. (Foto von 2009) (Foto: REUTERS)

Treblinka, Sobibór und Bełżec: Die Täter, die den Holocaust in den Vernichtungslagern vorantrieben, empfanden absolute Handlungsfreiheit, wie neue Bücher belegen.

Rezension von Ludger Heid

Treblinka ist ein Dorf in der Woiwodschaft Masowien, etwa achtzig Kilometer nordöstlich von Warschau und umgeben von Wäldern. Es duftet nach Kiefernnadeln - heute. Wie nach Treblinka verirren sich nur wenige Besucher in die noch abgelegeneren Orte Bełżec und Sobibór. Die Mörder haben ihre Spuren verwischt. Das monströse Verbrechen an diesen drei Orten scheint aus dem Gedächtnis der Nachwelt zu verschwinden.

Vor 74 Jahren roch es hier anders. Da lag monatelang der Geruch von verbranntem Menschenfleisch ständig in der Luft. Im Frühjahr 1942 war Treblinka im Rahmen der "Aktion Reinhardt" als Vernichtungslager im vom NS-Staat besetzten Polen errichtet worden. Treblinka hatte nur einen einzigen Zweck: die zügige Massenvernichtung. Es war das tödlichste Lager im genozidalen Wettbewerb der Nazis überhaupt.

Die "Aktion Reinhardt" ist für den Historiker Stephan Lehnstaedt der "Kern des Holocaust". Sie war benannt nach dem SS-Obergruppenführer, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, "Reichsprotektor" von Böhmen und Mähren und Chefplaner der "Endlösung", Reinhard Heydrich. Er war im Mai 1942 Opfer eines Attentats durch tschechoslowakische Widerstandskämpfer geworden.

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Innerhalb von fünfzehn Monaten wurden in Bełżec, Sobibór und Treblinka zwei Millionen Juden und 50 000 Sinti und Roma ermordet. Der im Frühjahr 1942 einsetzende industrielle Judenmord wurde nicht in Auschwitz "erfunden", sondern in und für Bełżec. Hier wurde er durch hoch motivierte Täter mit neuen Tötungsmethoden perfektioniert - mittels einer Kombination aus Täuschung, Geschwindigkeit, Drohungen und Gewalt.

Das Stammpersonal von Sobibór bestand lediglich aus 20 bis 30 deutschen SS-Männern und etwa 200 "fremdvölkischen" Helfern, der gebürtige Ukrainer Iwan (später John) Demjanjuk war einer von ihnen.

Auch wenn es keine Überlebenschance gab, leisteten Juden in Treblinka und Sobibór Widerstand. In Sobibór gelang im Oktober 1943 eine Rebellion des Arbeitskommandos. Fast 300 Häftlinge konnten fliehen, die meisten von ihnen wurden jedoch wieder gefangen und ermordet.

Sobibór? Nie gehört

Thomas Toivi Blatt, einer der Überlebenden des Aufstands, schrieb sein Schicksal später auf und zeigte das Manuskript einem Auschwitz-Überlebenden. Dieser glaubte ihm kein Wort - weil er nie von Sobibór gehört hatte. Der Ausbruch setzte ein Fanal: Die Täter konnten sich nicht länger in Sicherheit wiegen. Sie verlagerten die Mordstätte nach Auschwitz.

Die SS zog Bilanz: Zwei Millionen Juden waren tot. Außerdem wurden 1901 Eisenbahnwaggons voll mit Beute stolz nach Berlin gemeldet. Dazu kamen Banknoten aus aller Herren Länder, darunter ein uruguayischer Peso, 15 Mandschukuo-Cent oder zehn javanische Gulden, dann Schmuck, Armbanduhren, Taschenmesser, Zahngold oder Brillen. Insgesamt wurden 178 745 960,59 Reichsmark erbeutet.

Die Toten kamen sogar nach dem Holocaust nicht zur Ruhe. Es gab massive Formen der Leichenfledderei, Menschen durchwühlten die planierten Flächen der Vernichtungslager auf der Suche nach Wertsachen der Ermordeten. So groß war die Anziehungskraft der ehemaligen Mordfabriken, dass man vom "polnischen Klondike" sprach.

Trotz des polnischen Profitierens am Holocaust, so Lehnstaedt, sei eine klare Trennlinie zu den Verbrechen der Deutschen zu ziehen. Wo Letztere den Volksmord planten, ausführten und sich daran bereicherten, versuchten Teile der polnischen Bevölkerung, aus den geschaffenen Fakten einen Vorteil zu ziehen. Das war gewiss moralisch verwerflich und hatte gelegentlich kriminelle Auswüchse.

Kurz zusammengefasst: Lehnstaedts Buch ist eine unverzichtbare und wichtige Dokumentation.

Auch der Historiker Christian Gerlach beschäftigt sich mit der "Aktion Reinhardt". Doch seine Darstellung durchmisst die europäische Dimension des Judenmords. Ihm geht es prioritär um das Vorgehen nichtdeutscher Regierungen und Gesellschaften gegen Juden.

Deren Ermordung war ein globales Großprojekt, an dem sich auch Staaten ohne unmittelbare deutsche Täterschaft eigenverantwortlich beteiligten. Das zeigt er gründlich auf und gibt einen Überblick, indem auch das Schicksal der nichtjüdischen Opfer einen untrennbaren Bestandteil der sich entfaltenden Katastrophe bildet.

Für Gerlach, dessen Buch mehr Analyse bietet als Erzählung, gibt es Gründe, "etwas mehr über die nichtjüdischen Opfer" zu sprechen und die jüdischen Opfer "nicht ständig ins Zentrum" zu stellen, wenn man über deutsche Gewalt spricht. Dabei will er erklärtermaßen nicht so "avantgardistisch" sein, dies zum "übergreifenden Strukturprinzip" zu erheben.

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Kurz: Er sucht nach Verbindungen zu anderen Verfolgungen und gemeinsamen Kontexten der Gewalt gegen Juden und anderen Gruppen. Er bietet eigenem Selbstverständnis nach vergleichende Perspektiven, geht jedoch über den nicht ungewöhnlichen, aber unproduktiven Ansatz "Wer litt am meisten?" hinaus.

Einen Grund, warum die Geschichte von Tätern und Opfern häufig nicht zusammenzupassen scheint, sieht Gerlach in der Methodologie: Tätergeschichte wurde meist als politische Geschichte geschrieben, Opfergeschichte eher als Sozialgeschichte. Er versucht, Massengewalt stärker mit Blick auf soziale Akteure zu schreiben - Massengewalt als Sozialgeschichte.

Gerlach hält die Vorstellung, dass der Judenmord auf einer Arbeitsteilung beruhte, für problematisch, denn diese könne zu dem Missverständnis führen, der Mordprozess habe eine "monolithische Struktur" gehabt. Tatsächlich wurde die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen unterschiedlichen Instanzen, Staatsorganen und der Partei systematisch im Unklaren gelassen.

Die Polykratie unter der NS-Herrschaft führte nicht zu einem lähmenden Chaos. Im Gegenteil: Auf dem Gebiet der Gewalt war die Effizienz erschreckend. Die Durchschlagskraft der Gewalt beruhte stark auf einem System, das zur Mitwirkung einladen sollte.

Dass der Judenmord keinen "Vorrang vor allem anderen" besaß, wie Gerlach meint - und damit im Widerspruch zu Lehnstaedt steht - darf angezweifelt werden. Seine Belege sind die "vielen aufgeschobenen Deportationen" und die Langsamkeit der Deportationszüge.

Absolute Handlungsfreiheit, vor allem außerhalb des Reichsgebiets

Richtig ist: Die Durchführung des Judenmords hing nicht zuletzt von der Bereitstellung der Transportmitteln durch die Reichsbahn ab. Die ließ sich aber trotz der angespannten Transportlage nicht lange bitten - am 20. Januar 1943 sogar von Heinrich Himmler persönlich ("Helfen Sie mit und verschaffen Sie mir mehr Züge.") - und ließ Räder rollen für die "Endlösung".

Christian Gerlach schreibt der deutschen Gewalt gegen Juden einen "partizipatorischen Charakter" zu, der sich aus der Struktur der Entscheidungsfindung in Fragen von Leben und Tod herleitet. Deutsche Täter konnten ihre individuellen Beiträge zur Verfolgung durch den Staatsapparat oder Parteiorganisationen "legitimieren" - statt sie umgehen zu müssen.

Sie fühlten sich ausgestattet mit politischer Macht und absoluter Handlungsfreiheit, insbesondere in Aktionsräumen außerhalb des Reichsgebiets. Ihre exekutive Autorität blieb nahezu unbehindert durch Gerichte, Presse und staatliche Aufsicht. Bei ihrem Streben nach dem, was sie als das Beste für das Reich ansahen, wandten sich deutsche Entscheidungsträger gegen Juden aus Motiven, die sich mit Bildern des "Minderwertigen" oder "Gefährlichen" verbanden.

Außerhalb der deutschen Reichsgrenzen, dort, wo der größte Teil des Judenmords stattfand, war die verbreitete aktive Unterstützung und das fast völlige Fehlen von Widerstand bemerkenswert. Gerlach gibt nur eine vorläufige und allgemeine Erklärung, dass nämlich etwa deutsche Soldaten in den besetzten Ländern, infiziert mit einem Populärrassismus, dazu neigten, sich nicht gegen die Ermordung von Juden zu stellen, weil ihnen dies im Kontext des Krieges logisch erschien. Dies weiter zu erklären, bleibt eine Aufgabe für die künftige Forschung.

Ludger Heid ist Neuzeithistoriker und lebt in Duisburg.

© SZ vom 08.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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