Süddeutsche Zeitung

NS-Geschichte:Das Rätsel um Herschel Grynszpan

Lesezeit: 3 min

Von Benjamin Moscovici

Am 7. November 1938 betritt Herschel Grynszpan die deutsche Botschaft in Paris. In seiner Tasche ein Revolver. Vor kurzem hatte ihn ein Brief seiner Schwester erreicht: Die ganze Familie deportiert von Deutschland nach Polen.

Grynszpan fragt die Vorzimmerdame nach dem Botschaftssekretär und wird von ihr ohne weitere Nachfragen zu Ernst vom Rath vorgelassen. Grynszpan zögert nicht. Historischen Berichten zufolge schreit der 17-Jährige: "Sie sind ein schmutziger Deutscher und jetzt übergebe ich Ihnen im Namen von 12000 verfolgten Juden die Quittung".

Dann feuert er fünf Schüsse auf Rath, ein Projektil durchschlägt seine Milz. Zwei Tage später ist der Diplomat tot. Die französischen Behörden verhaften Herschel Grynszpan, er wird wegen Mordes angeklagt. In Berlin aber instrumentalisiert man die Tat sofort.

Die Nazis stellen Grynszpan als Teil einer jüdischen Weltverschwörung dar. Auf Geheiß von Propagandaminister Joseph Goebbels wurde überall im Reich Gewalt gegen jüdische Deutsche entfesselt.

Hunderte werden in der Reichpogromnacht vom 9. auf den 10. November ermordet oder in den Suizid getrieben, unzählige Menschen misshandelt, bedroht und traumatisiert. Tausende Synagogen, jüdische Einrichtungen, Friedhöfe und Geschäfte werden angezündet, geschändet und verwüstet. 30 000 Juden werden in Konzentrationslager verschleppt.

Mehr als 70 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur blieb vor allem eine große Frage offen: Was passierte mit Grynszpan? Im Juli 1940, nach der Eroberung Frankreichs durch die Deutschen, übergaben die Franzosen den Gefangenen an die Nazis, die ihn nach Berlin in das Gestapogefängnis brachten.

Die Machthaber planten damals, Grynszpan in einem Schauprozess anzuklagen und zu verurteilen, stellvertretend für die vom Hitler-Regime ständig beschworene Weltverschwörung. Doch dann kam es anders.

Grynszpan sagte plötzlich aus, er habe vom Rath nicht aus politischen Motiven getötet, sondern es habe sich um eine Beziehungstat gehandelt. Ein Skandal zeichnet sich ab: Schwule Nazis in Paris? Eine unvorstellbare Schande für die deutschen Propagandisten.

Und was, wenn das nicht alles war? Die Ankläger befürchten, dass Grynszpan im geplanten Prozess nicht nur die Homosexualität seines Opfers, sondern auch anderer Nationalsozialisten in Paris an die Öffentlichkeit bringen würde. Im Juli 1942 wird der Prozess ausgesetzt. Grynszpan kommt zunächst ins KZ Sachsenhausen und wird später ins Zuchthaus Magdeburg verlegt.

Bislang gingen Historiker davon aus, dass er irgendwann zwischen 1942/1943 und dem Ende des Krieges in einem Konzentrationslager starb, möglicherweise von den Nazis getötet wurde. Auf Antrag seiner Eltern, die den Holocaust überlebt hatten, wurde Grynszpan 1960 in der Bundesrepublik von einem Gericht offiziell für tot erklärt, wodurch seine Familie Entschädigungsansprüche erhielt.

Doch vor einiger Zeit ist nun im Jüdischen Museum in Wien ein Foto aufgetaucht, das die bisherigen Annahmen über den Haufen wirft. Christa Prokisch, die dort als Archivarin arbeitet, fand die Aufnahme zufällig in einer Serie von Bildern aus dem Jahr 1946. Zu sehen sind jüdische Demonstranten, die von der britischen Besatzungsmacht fordern, nach Israel ausreisen zu dürfen.

Einer der Männer auf dem Bild: Herschel Grynszpan. Das zumindest sagt der deutsche Journalist und Historiker Armin Fuhrer, der sich schon seit Jahren mit der Geschichte Grynszpans beschäftigt. Und eine Gesichtserkennungssoftware gibt ihm recht: 95 Prozent Übereinstimmung.

Nun hoffen Historiker, mit der neuen Spur den weiteren Weg von Grynszpan herauszufinden. Theoretisch könnte er sogar noch am Leben sein: Er wäre 95 Jahre alt. Mehr denn je sind viele Wegmarken aus seiner Vita mysteriös. Wie konnte er den Nazis entkommen? Wie gelangte er nach Wien? Unklar ist auch, ob er und Ernst vom Rath sich vor der Tat schon begegnet waren. Kannten sich die beiden aus der Homosexuellen-Szene?

Wenig beachtet ist bislang auch, dass Grynszpans Tat das zweite Mal war, dass die deutsche Botschaft in Paris ein Schicksalsort jüdischer Geschichte wurde.

1894 wurden in der Vertretung Dokumente entwendet, die nahelegten, dass jemand aus der französischen Armee dem deutschen Erbfeind Militärgeheimnisse zugespielt hatte. Es ging um Spionage und Hochverrat. Der Hauptverdächtige war schnell gefunden: Alfred Dreyfus. Der jüdische Offizier aus dem Elsass war wegen seiner Herkunft gleich doppelt verdächtig.

Der Prozess erregte internationales Aufsehen. Viele Zeitgenossen kritisierten, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Anklage sich von antisemitischen Vorurteilen leiten ließe.

Als Dreyfus schließlich verurteilt wurde - zu Unrecht, wie sich später erwies - säumten Tausende Schaulustige die Straßen und skandierten: "Tod dem Verräter! Tod dem Juden!" Diese Szene sollte sich einbrennen in das kollektive Gedächtnis der Juden, auch bei Theodor Herzl.

Der Wiener, vorher ein Verfechter der Assimilation, meinte zu erkennen, dass die Europäer die Juden immer hassen würden. Niemand, und sei er noch so gut integriert, selbst ein Offizier der französischen Armee wie Dreyfus, könne vor dem Antisemitismus sicher sein. Die Idee für sein berühmtes Buch "Der Judenstaat" war entstanden. Es war die Geburtsstunde des Zionismus.

Ein halbes Jahrhundert später bewies die Geschichte - ausgehend von demselben Ort, an dem Herzls Ideen über den europäischen Antisemitismus ihren Ursprung hatten - wie Recht Herzl mit seiner Einschätzung behalten sollte. Assimilation konnte die Juden in Europa nicht schützen.

Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ist eine drastische Wegmarke in der Geschichte des Nationalsozialismus: Aus einer Politik der Diskriminierung und Entrechtung wurde eine systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in der systematischen Vernichtung der europäischen Juden mündete.

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