Süddeutsche Zeitung

NS-Diktator Adolf Hitler:Die Legende vom Charisma

Erst politisch nicht festgelegt, dann rechter Trommler, schließlich "deutscher Messias": Ludolf Herbst erzählt, wie Adolf Hitlers Nimbus aufgebaut wurde.

H. Mommsen

Die Deutschen meinen, Hitler zu kennen. Dass es den zahlreichen Monographien zum Trotz möglich ist, das festgefügte Hitlerbild zu modifizieren, zeigt Ludolf Herbst. Er weist nach, dass Hitlers Rolle als "deutscher Messias" auf einer Erfindung seiner frühen Gesinnungsgenossen beruht und mithin dessen Charisma auf eine Legende zurückgeht.

Herbst sucht - wie viele Interpreten vor ihm - den Widerspruch zwischen Hitlers intellektueller Mediokrität und seiner Unfähigkeit, soziale Kontakte zu knüpfen einerseits und seiner herausragenden propagandistischen Begabung, seiner Rolle als Parteiführer und als Reichskanzler andererseits, zu erklären.

Um plausibel zu machen, warum so viele Deutsche Hitler verehrten, wird dessen charismatische Begabung angeführt. Insbesondere Hans-Ulrich Wehler hat seiner Deutung das Charisma-Konzept Max Webers zugrunde gelegt.

Ähnlich wie Ian Kershaw entwirft Wehler eine bipolare Sicht der NS-Diktatur, wonach die Ausnützung der in Deutschland nach 1918 herrschenden "charismatischen Situation" durch Adolf Hitler mit einer mehr oder minder bedingungslosen Gefolgschaft der großen Mehrheit des deutschen Volkes korrespondiert. Dabei wird Hitler große politische Begabung und Zielstrebigkeit zugeschrieben.

Jede Meinung war ihm recht

Herbst wirft die Frage auf, warum sich Hitlers Charisma in dem durch bürokratische Herrschaft geprägten Umfeld seiner Zeit überhaupt hat entwickeln können. Er legt den Akzent auf den Prozess der "Veralltäglichung" des Charismas und damit auf die Wechselwirkung von charismatischer Mobilisierung und deren im Zuge der Machtakkumulation notwendig eintretender institutioneller Verfestigung.

Dabei stellt sich zunächst die Frage, von welchem Zeitpunkt an Hitler überhaupt als "Charismatiker" bezeichnet werden kann. Herbst gelangt zu der überraschenden Feststellung, dass bei Hitler für die Lebensphase bis 1919/20 alle Voraussetzungen dafür fehlen.

Zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem Lazarett in Pasewalk und seines Eintritts in die Bayerische Reichswehr war Hitler in keiner Weise politisch festgelegt: Jeder Richtung, die ihm eine soziale Bindung verhieß, hätte er sich angeschlossen.

Hitlers Dienst beim Gruppenkommando 4 der Bayerischen Reichswehr, den er am 31. März 1920 beendete, besaß, so Herbst, "entscheidende Bedeutung für die Formierung des Politikers Hitler". Damals erhielt er wichtige ideologische Anregungen, die durch den Einfluss der Thule-Gesellschaft vertieft wurden. Er propagierte nun zum einen die "Kriegsschuldlüge" und zum anderen einen eliminatorischen Antisemitismus.

Hitlers psychologische Festigung als Person vollzog sich ausschließlich durch das Medium seiner rhetorischen Auftritte. Sie bahnten ihm den Weg zum politischen Erfolg. Doch erst nach dem Putschversuch vom 9. November 1923, nachdem das militärische Umsturzprojekt mit Erich Ludendorff als Galionsfigur gescheitert war, trat Hitler mit charismatischem Führungsanspruch auf.

Sein Engagement in der DAP und seine neue Rolle als deren Agitator erfolgte auf Betreiben der Reichswehr.

Herbsts nüchterne und quellengesättigte Analyse der Herausbildung des Führerglaubens ergibt, dass der seit 1921 in den Vordergrund tretende Führerkult von dem engeren Gefolge, in dem die Münchner Clique eine bestimmende Rolle spielte, zunächst als innerparteiliches Bindemittel erfunden wurde. Vor der Niederschrift von Mein Kampf beschränkte Hitlers politisches Konzept sich auf extreme Judenfeindschaft und hasserfüllte Attacken auf den Vertrag von Versailles.

Ausführlich schildert Herbst die ausgefeilten Propagandatechniken, Inszenierung und Ritualisierung des "Führerkultes".

Von entscheidender Bedeutung war die sich im Umkreis Hitlers bildende engere Gefolgschaft, die in ihm "den zukünftigen Führer und Retter Deutschlands" erblickte und analog zu der von Max Weber beschriebenen "Glaubensgemeinschaft" als "Tat- und Handlungsgemeinschaft" fungierte.

Der Wandel von Hitlers Mentalität erfolgte vor dem Hintergrund der Machteroberung Benito Mussolinis. Nach Mussolinis Marsch auf Rom im Oktober 1922 betrieb Hitlers Entourage die Übertragung des Führerprinzips auf Hitler.

Herbst betont, dass Hitler sich erst nach dem gescheiterten Putsch von 1923 als "charismatischen Führer" selbst entdeckte. Zuvor hatte er sich als "Trommler und Sammler" an der Seite Ludendorffs hingestellt.

Wichtiger als Hitlers noch oszillierendes Selbstverständnis war die innere Wandlung der im Krisenjahr expandierenden NSDAP, die zwar noch keine charismatischen Züge besaß, aber sich in eine "moderne Partei" zu verwandeln begann.

In dieser Phase strebte Hitler danach, der NSDAP das Monopol im völkischen Lager zu sichern und im Übrigen ideologischen Kontroversen auszuweichen, wozu seine persönliche Bequemlichkeit beitrug.

"Die Inszenierung des Nationalsozialismus als politische Religion", schreibt Herbst, lief darauf hinaus, "den Führer der NSDAP als Messias, die Partei als Glaubensgemeinschaft" herauszustellen. Aus Hitlers Sicht war die Partei jedoch nur "ein Mittel zum Zweck". Er glaubte an einen "direkten Kontakt zwischen Führer und Volk" ohne Zwischenschaltung der Partei, während die NSDAP - mit Herbst gesprochen - einer "ausgefeilten Organisationstechnik" bedurfte, um als charismatische Führerpartei zu bestehen.

In der Wirtschaftskrise, die 1929 ausbrach, rückten Inszenierung und Ritual in den Vordergrund der Parteiarbeit, sie zielten in erster Linie auf die Integration von Mitgliedern und Anhängern. Die - so Herbst - "ins Gigantische gesteigerte Inszenierung der Volksgemeinschaft mit Hilfe der Parteigänger und Anhänger" in den Wahlkämpfen zwischen 1928 und 1932 war freilich von einer Abschwächung des Hitlerschen Charismas begleitet.

Gleichsam unterhalb der auf ihn bezogenen charismatischen Führerpartei entfaltete sich der auf Betreiben Gregor Strassers und Heinrich Himmlers ausgebaute Parteiapparat.

Messianische Erwartungen

Mit den sprunghaften Wahlerfolgen der NSDAP seit dem Frühjahr 1929 trat das rassistische Kernelement der NS-Propaganda eher zurück, doch plädiert Herbst dafür, dass man der nationalsozialistischen Propaganda nicht nachträglich erliegen solle: Der Glaube an Hitler hatte nicht die komplette Nation erfasst.

Hans-Ulrich Wehlers Auffassung, die Einbindung breiter Teile der "Volksgemeinschaft" habe die charismatische Herrschaft stabilisiert, wird von Herbst nicht geteilt. Er meint vielmehr, dass die "Legende des charismatischen Führers" die Funktion hatte, die sowieso vorhandenen messianischen Erwartungen in der deutschen Öffentlichkeit für die NSDAP nutzbar zu machen.

Damit grenzt Herbst sich auch von Positionen ab, die Hitler ein substantielles politisches Konzept zuschreiben, und legt den Akzent auf die manipulatorischen Grundlagen des Mythos von der "Volksgemeinschaft". Weit entfernt davon, dem Diktator konstruktive Führungsqualitäten zuzuschreiben, deckt Herbst die vielfach trivialen Grundlagen seiner charismatischen Herrschaft auf und plädiert für eine Entmythologisierung Hitlers.

LUDOLF HERBST: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2010. 336 Seiten, 22.95 Euro.

Der Historiker Hans Mommsen ist Professor Emeritus der Universität Bochum.

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Quelle:
SZ vom 17. 05 2010/odg
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