Zehn Wochen nach dem islamistischen Attentat von Solingen sieht sich Nordrhein-Westfalens Ministerin für Flucht und Integration, die Grüne Josefine Paul, erneut schweren Vorwürfen der SPD-Opposition ausgesetzt. „Die schwarz-grüne Koalition in NRW versucht, bei der Aufarbeitung des Anschlags ein eklatantes Versagen der Regierung zu verschleiern“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Lisa Kapteinat der Süddeutschen Zeitung am Mittwoch am Rande einer Sitzung des Integrationsausschusses des Landtags in Düsseldorf.
SPD und FDP werfen Paul vor, Fehler von Landesbehörden in ihrem Verantwortungsbereich hätten 2023 eine Abschiebung des Syrers Issa al-H. nach Bulgarien verhindert. Der mutmaßliche Anhänger der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ hatte am 23. August beim Solinger Stadtfest mit einem Messer drei Menschen getötet und mehrere Besucher zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Die neue Kritik zielt auf mutmaßliche Kommunikationsprobleme zwischen Innenminister Herbert Reul (CDU) und Ministerin Paul am Wochenende unmittelbar nach der Bluttat – und auf einen Reformversuch der Fluchtministerin. Am 30. August – also eine Woche nach der Tat – veröffentlichte Pauls Ministerium einen Erlass, der bisherige Mängel und Pannen bei der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern beheben sollte.
Die Ministerin habe sich zu wenig gekümmert, lautet der Vorwurf
Nun jedoch enthüllte die Funke-Mediengruppe: Die fünf Regierungspräsidenten – also die Chefs der fünf Bezirksregierungen in NRW – hatten bereits am 20. September in einem gemeinsamen, elf Seiten langen Brandbrief an Paul gewarnt, etliche ihrer Anweisungen seien in der Praxis organisatorisch und technisch „nicht leistbar“. So sei die Software oft inkompatibel, Daten müssten wiederholt per Hand eingetragen werden. Und die Sicherheitsdienste in vielen Unterkünften könnten oft gar nicht wissen, ob oder wann ein Geflüchteter in seiner Unterkunft oder abwesend sei.
Dennoch hatte Paul drei Wochen später genau diesen Erlass als Teil eines „Sicherheitspakets“ dem Landtag präsentiert, mit dem die NRW-Regierung Lehren aus Solingen ziehe. Die massiven Bedenken der fünf Behördenleiter erwähnte sie nicht. Am Mittwoch ging Paul kaum auf die Vorhaltung ein: Gespräche mit den fünf Bezirksregierungen gehörten in ihrem Haus „zum ganz normalen Arbeitsalltag“.
Dieses Verhalten der Ministerin, so Kapteinat zur SZ, offenbare „entweder Verzweiflung oder sogar Dreistigkeit“. Paul, die zugleich auch Landesministerin für Kinder, Jugend, Familie und Gleichstellung ist, habe sich seit ihrem Amtsantritt 2022 zu wenig um Flucht und Integration gekümmert. Kapteinat unterstellt der grünen Ministerin deshalb „eine grundsätzliche Inkompetenz“ bei diesen Themen – „und zwar auch schon vor dem Anschlag“. Fast wortgleich sieht nun der FDP-Abgeordnete Marc Lürbke ebenfalls Pauls „fachliche Kompetenz ernsthaft infrage gestellt“.
Vor der Abschiebung verschwand er, kam dann zum Mittagessen zurück
Der Streit um die gescheiterte Abschiebung des Attentäters belastet die Ministerin seit Ende August. 24 Stunden nach der Solinger Tat war der syrische Islamist am 24. August festgenommen worden. Noch am selben Samstagabend wurde bekannt, dass eine versuchte Rückführung des mutmaßlichen Terroristen im Juni 2023 fehlgeschlagen war: Issa al-H. sollte nach Bulgarien ausgeflogen werden, weil er in dem EU-Staat als Geflüchteter erfasst worden war, bevor er später nach Deutschland weitergereist war.
Die geplante Rückführung nach der sogenannten Dublin-Verordnung der EU misslang jedoch, weil die Behörden den Syrer am frühen Morgen des 5. Juni 2023 nicht in seinem Zimmer in einer Landes-Notunterkunft in Paderborn angetroffen hatten. Wenige Stunden danach wurde der Mann in der Unterkunft zwar wieder beim Mittagessen gesichtet – aber seine Rückkehr nicht an die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld gemeldet. Zudem unterließ es Pauls Ministerium, kurzfristig eine zweite Abschiebung nach Bulgarien zu versuchen. Die Frist zur Rückführung verstrich im August 2023, danach lebte Issa al-H. mit einer Duldung in Solingen. Bis zum 24. August.
An jenem Wochenende nach der Solinger Tat hatte Ministerin Paul nur mit Verzögerung erfahren, dass der mutmaßliche Täter ein Geflüchteter aus Syrien war, dessen Abschiebung nicht gelang. Wie der Spiegel berichtete, wusste NRW-Innenminister Reul dies seit Samstagabend. Erst am Sonntag bat er per SMS seine Kollegin um einen Rückruf – das erledigte dann ein Mitarbeiter der Ministerin.