Zu den kompliziertesten Themen im Rechtsstaat gehört die Frage nach dem polizeilichen Umgang mit Menschen, die sich bedrohlich verhalten und womöglich sogar gefährlich sind. Das ist nicht erst seit dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt so. Einerseits ist Sicherheit ein hohes Gut, andererseits dürfen Grundrechte nicht beliebig eingeschränkt werden.
An diesem Freitag hat das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss zur Überwachung sogenannter Gefährder veröffentlicht – und zwei Paragrafen des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes für grundgesetzwidrig erklärt.
Den Anlass für das Verfahren hatte ein Mann gegeben, dessen Vita nun wirklich einen Grund zur Vorsicht gab. Als Jugendlicher hatte er sich der Skinhead-Szene angeschlossen und wurde zu einer Jugendstrafe von acht Jahren Haft verurteilt – unter anderem wegen Totschlags. Auf den ersten Gefängnisaufenthalt folgte die nächste Freiheitsstrafe, sechs Jahre und zwei Monate wegen gefährlicher Körperverletzung. Unterdessen wurde er als „Gefährder“ in der Kategorie „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ geführt. Als er 2015 entlassen wurde, ordnete die Polizei seine Observation im öffentlichen Raum an, inklusive heimlicher Bildaufnahmen. Mindestens einen Monat lang sollte er im Visier der Späher bleiben.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon viele Paragrafen einkassiert
Eine Freundin, die ihn in dieser Zeit oft begleitet hatte, klagte gegen die Aktion, denn auch sie war auf den Fotos zu sehen. Der Fall wanderte durch die Instanzen, bis das Leipziger Bundesverwaltungsgericht schließlich das Verfassungsgericht anrief, weil es die beiden Paragrafen im NRW-Gesetz für verfassungswidrig hielt.
So sieht es nun auch das Karlsruher Gericht. Anlass für die höchstrichterliche Intervention ist indes nicht so sehr der konkrete Umgang mit dem entlassenen Straftäter. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts – als Berichterstatterin war Yvonne Ott zuständig – hält bereits die einschlägigen Vorschriften für zu weit gefasst. Das ist beim Thema Sicherheit nichts Neues: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Gericht zahlreiche tendenziell uferlose Paragrafen einkassiert.
Dabei hat das Gericht auch dieses Mal vorangestellt, dass Sicherheit ein hohes Gut sei, gleichrangig mit anderen „hochwertigen Verfassungsgütern“. Wirksame Überwachungsmaßnahmen seien daher „von großem Gewicht“ für Freiheit und Demokratie; der Staat müsse Leben, Freiheit und Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger schützen. Das Gericht formuliert also kein pauschales Nein, ganz im Gegenteil: Längerfristige Observationen und heimliche Fotos dürfen durchaus zum Repertoire der Polizei gehören.
Karlsruhe verlangt für eine so detaillierte Überwachung deutlich mehr als das polizeiliche Bauchgefühl
Weil aber gerade eine heimliche, länger dauernde Überwachung tief in Persönlichkeitsrechte eingreift, auch wenn sie sich auf öffentlich zugängliche Orte beschränkt, ist sie nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. In den Worten des Gerichts: Es muss eine „konkrete oder wenigstens eine konkretisierte Gefahr“ vorliegen. Das ist keine unüberwindbare Hürde – aber Karlsruhe verlangt für eine engmaschige Überwachung doch deutlich mehr als das polizeiliche Bauchgefühl.
Der einschlägige Paragraf 16a des NRW-Polizeigesetzes erlaubt Observationen, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wollen“. Wann, wo, wie – darauf verlangt die Vorschrift der Polizei keine Antwort ab. Dies ist dem Gericht viel zu pauschal. Eine Kombination von Observation und heimlichen Fotos sei nur erlaubt, wenn die Tatsachen „den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen“. Wenn also zumindest die Konturen der möglichen Straftat sichtbar werden, die verhindert werden soll. Eine Prognose, die sich „allein auf allgemeine Erfahrungssätze stützt“, reicht mithin nicht aus.
Übersetzt auf die polizeiliche Wirklichkeit heißt dies: Der Umstand, dass jemand in einer Gefährderkartei geführt wird, rechtfertigt jedenfalls keine Dauerobservation. „Allein die auf Tatsachen gegründete, nicht näher konkretisierte Möglichkeit, dass jemand irgendwann in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen will, wird dem Bestimmtheitsgebot nicht gerecht“, heißt es in der Entscheidung. Das könnte auch für andere Länder Konsequenzen haben; im sächsischen Polizeigesetz etwa finden sich ähnliche Formulierungen wie in NRW.
Die Polizei in Nordrhein-Westfalen muss allerdings nicht sofort jegliche Observationen einstellen, trotz der Karlsruher Entscheidung. Die Paragrafen bleiben bis zum Ende des Jahres in Kraft – bis dahin müssen sie ausgebessert werden.