Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen:"Chaos" und "Versagen"

Lesezeit: 3 Min.

Fehlende Unterkünfte, mehr Geflüchtete, viel Frust - und keine Lösung in Sicht: Im Düsseldorfer Landtag machen sämtliche Oppositionsparteien Front gegen die grüne Ministerin Paul.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Die Debatte ist vorbei, die verbale Schlacht geschlagen. Ein paar Minuten später sitzt Lisa Kapteinat verzagt in ihrem Abgeordnetenbüro. Die stellvertretende Fraktionschefin der SPD-Opposition grübelt noch, "was da eben eigentlich passiert ist" im Plenarsaal des Düsseldorfer Landtags. Eineinhalb Stunden lang hat das nordrhein-westfälische Parlament hitzig gestritten über ein Thema, das die Menschen in Nordrhein-Westfalen laut Umfrage mehr besorgt als jedes andere.

Dieses Thema, das ist die Zuwanderung von Tausenden Geflüchteten und die zunehmende Not der Behörden, noch irgendwo Unterkünfte zu finden für die vielen Ukrainer, Syrer, Iraker und Afghanen, die im Westen Schutz suchen vor Krieg, Bürgerkrieg, Vertreibung. Auch Kapteinat weiß kein Patentrezept. Was sie aber weiß: "Wir Demokraten dürfen nicht den Frust und die Sorgen der Bürger der AfD überlassen."

Die AfD schlägt den radikalsten Ton an

Alle drei Oppositionsparteien in Nordrhein-Westfalen - SPD, FDP und AfD - hatten am Donnerstagvormittag eine Aktuelle Stunde zur Lage verlangt. Und alle drei, Rote wie Gelbe und Blaue, zielten auf eine Person: Josefine Paul (Grüne), die Ministerin für Flucht und Integration im schwarz-grünen Regierungskabinett, trage die Verantwortung für "Chaos" und "Versagen". Die AfD-Abgeordnete Enxhi Seli-Zacharias hatte, wenig überraschend, den radikalsten Ton angeschlagen und verlangt, "dass die Willkommenskultur ein Ende hat". Sie wolle "kein Bundesland, das 640 Millionen Euro für Menschen ausgibt, die gar nicht hier sein sollten".

Selbstverständlich hat Lisa Kapteinat da heftig mit dem Kopf geschüttelt. Wie auch manch anderer Abgeordnete auf den Bänken von CDU, Grünen und FDP. Soweit steht die Front im NRW-Landtag gegen die AfD immerhin - wie (noch) in allen deutschen Parlamenten. Kapteinat zum Beispiel, die 34-jährige Sozialdemokratin, ist Juristin und hat als junge Anwältin wiederholt Asylsuchende vertreten. Und doch passiert dann etwas, das sie so "fassungslos" macht, dass sie sich dazu hinreißen lassen wird, Flüchtlingsministerin Paul ebenfalls "Versagen" und "Missmanagement" vorzuwerfen.

Die grüne Fraktionschefin bringt das Fass zum Überlaufen

Den Funken zur Explosion der Debatte zündet Verena Schäffer. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen will ihrer angeschlagenen Parteifreundin Paul beispringen und wirft deren Kritikern mangelnde "Redlichkeit und Ehrlichkeit" vor. Die Opposition, so Schäffer weiter, betreibe nur einen "ritualisierten parteipolitischen Schlagabtausch" - vernünftige Vorschläge zur Unterbringung von mehr Geflüchteten habe sie nicht vernommen. Und weil Schäffer dann auch noch einen Seitenhieb gegen Bundesinnenministerin Nancy Faeser austeilt, die mit "halbgaren Diskussionsbeiträgen ihren roten Sheriffstern" präsentiere, verhärten sich die Fronten zwischen Opposition und Regierung im Saal endgültig.

Auftritt Lisa Kapteinat. Sichtlich empört steht die Sozialdemokratin nun am Rednerpult, schiebt ihr Redemanuskript zunächst beiseite. Sie nimmt die Sache jetzt persönlich. Die Kollegin Schäffer wisse genau, dass sie, Kapteinat, seit Monaten hinter den Kulissen warne vor den Zuständen in manchen Großunterkünften des Landes. Zuletzt im April habe sie vertraulich auch die Kollegin Schäffer alarmiert, dass Tage zuvor in einer Notunterkunft in ihrem Wahlkreis in Castrop-Rauxel mehrere syrische Geflüchtete vier afghanische Insassen mit Messern angegriffen hätten. Und dass sie zuvor "monatelang" an Ministerin Paul gescheitert sei, "weil sie nicht hören wollte." Es gehe "nicht um das Ob, sondern um das Wie" der Unterbringung in Behausungen, wo in Castrop-Rauxel zwischen Spanplatten oft nur ein Vorhang hänge und jegliche Privatsphäre unmöglich sei.

Die Zustände in den Unterkünften schüren Konflikte

Tatsächlich mehren sich in NRW die Beispiele dafür, dass miserable Verhältnisse in Lagern Konflikte schüren. In einer Zeltstadt im Kreis Unna musste die Polizei bereits mehrfach Schlägereien stoppen. Und selbst in gutsituierten Stadtteilen wie in Mülheim-Raadt, wo Pauls Ministerium im Juni 600 Geflüchtete in ein ehemaliges Bürohaus einquartierte, wachsen Empörung und Widerstände - nicht gegen die Insassen, aber gegen Pauls Ministerium. Die Ministerin, so flüstert auch eine Grüne im Landtag, sei inzwischen "eine Gefangene ihrer Bürokratie."

Eine Lösung bescherte der Streit im Landtag nicht. Ministerin Paul hatte über Nacht zwar noch einen "Sechs-Punkte-Plan" mit allerlei Verbesserungen aufgelegt. Aber schon ihr Versprechen, fortan mit Anwohnern sowie Städten und Landkreisen besser zu kommunizieren, stieß auf Unglauben: Oppositionsabgeordnete wie Kapteinat erhielten das Papier erst nach der Sitzung. Da saß sie dann ratlos in ihrem Büro und sprach von ihrer Angst: "Ich befürchte, dass die Stimmung unter den Bürgern kippt."

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