Das deutsche Gesundheitswesen befinde sich in der Krise, das betont Karl Lauterbach gleich am Anfang. Der Gesundheitsminister spricht von „erheblichen Defiziten“, ob in der Präventionsarbeit, in der Forschung, bei der Spezialisierung in den Kliniken, der Notfallversorgung oder der nur langsam voranschreitenden Digitalisierung. Zudem habe sich die Lebenserwartung der Deutschen „ungünstig“ entwickelt. Es brauche folglich eine „Runderneuerung“, so Lauterbachs Fazit. Mit den vier Gesetzentwürfen, die das Kabinett am Mittwoch verabschiedet hat, beginne nun eine „Aufholjagd“.
Die „Akutleitstellen“ werden unter der 116117 erreichbar sein
Die Reform der Notfallversorgung ist die wohl wichtigste Neuerung in dem Gesetzespaket. Um den Dienst zu entlasten, werden zwei neue Einrichtungen eingeführt: die sogenannten Akutleitstellen und die Integrierten Notfallzentren, kurz INZ.
Eine Akutleitstelle ist eine telefonische oder videogestützte Beratung, bei der Ärzte beurteilen, wie dringlich die Behandlung eines Patienten ist, und ihn in eine passende Behandlung vermitteln. Laut aktuellen Erhebungen sucht ein Drittel aller leicht erkrankten Patienten eine Klinik-Notaufnahme auf und belastet diese Stationen damit zusätzlich. Solche Fälle sollen künftig von Akutleitstellen abgefangen werden, die unter der Rufnummer 116117 jederzeit erreichbar sein sollen.
Sie werden eng mit den Rettungsstellen zusammenarbeiten, die unter der bekannten 112 erreichbar sind. Ruft etwa ein Patient mit einer leichten Verletzung die 112 an, wird er künftig auf die 116117 weitergeleitet. Umgekehrt werden Notfälle von der 116117 auf die 112 umgeleitet, wenn sich die medizinische Lage doch als kritisch herausstellen sollte. Um den Unterschied beider Rufnummern breitflächig zu kommunizieren, wird das Ministerium eine große Informationskampagne starten. Lauterbach rechnet in der Bevölkerung mit einer „großen Akzeptanz“, da die Maßnahme die wichtigen Notfalldienste entlasten soll.
Ein Integriertes Notfallzentrum ist im Krankenhaus selbst angesiedelt und soll dort die Notfallaufnahme zusätzlich entlasten, indem es die Arbeit von Notdienstpraxen und Notaufnahme koordiniert – und auch mit niedergelassenen Praxen kooperiert. So soll die Versorgung effizienter werden, insbesondere in ländlichen Gegenden sei sie immer noch mangelhaft, sagt Lauterbach. „Es darf keine Rolle spielen, wo man lebt, wenn man einen Schlaganfall hat.“
Überkreuzspende für Nierenkranke
Um die Digitalisierung voranzutreiben, soll die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (Gematik) per Gesetz zur Digitalagentur ausgebaut werden. Die Agentur soll die nötigen Durchgriffs- und Aufsichtsrechte erhalten, um die digitale Transformation unabhängig zu steuern. Neue, technisch überlegene Softwareunternehmen könnten so schneller beauftragt werden, verspricht Lauterbach. „Damit das alles schneller geht, brauchen wir auch eine Professionalisierung der Vergabe.“ Es sei das größte Digitalisierungsprojekt Europas.
Um chronische Erkrankungen wie Krebs und Herzversagen besser vorzubeugen, will das Kabinett ein Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin gründen. Dieses BIPAM wird sich aus der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Teilen des Robert-Koch-Instituts zusammenfügen und soll den Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis fördern.
Außerdem hat das Kabinett der Überkreuzspende zugestimmt. Bislang können nur Paare untereinander Organe wie Nieren spenden. Wenn sie aber medizinisch inkompatibel sind, kann die Lebendspende nicht ausgeführt werden. Um das Problem zu umgehen, sollen künftig zwei Paare „überkreuz“ Organe spenden dürfen – auch wenn sie sich nicht kennen.
In den vergangenen Monaten hatte Karl Lauterbach bereits drei Reformen vorgestellt: das Versorgungsstärkungsgesetz, das Krankenhausgesetz und das Gesundes-Herz-Gesetz. Zudem steht wohl am 21. August eine Apothekenreform an. Der Entwurf werde juristisch geprüft, sobald Justizminister Marco Buschmann aus dem Urlaub wiederkehre, versichert Lauterbach. Er geht davon aus, dass alle acht Gesetze zum Jahreswechsel „wirken“ werden.