Gesundheitswesen:Im Notfall überlastet

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Personalmangel, Zeitdruck, Überforderung: Notfallmediziner klagen über unhaltbare Zustände. (Foto: Sergei Anischenko/Imago/Westend61)

Die Arbeitsbedingungen in Notaufnahmen deutscher Kliniken sind prekär – Gesundheitsminister Lauterbach wollte das mit einer Reform ändern. Doch nach dem Aus der Ampelregierung fürchten Ärzte, dass es noch schlimmer wird.

Von Milena Feldmann, Lena Frings, Svenja Jäger und Moritz Müllender

Nachtdienst in einer bayerischen Notaufnahme, wie ihn eine junge Assistenzärztin erlebt: Zwei im Magen-Darm-Bereich blutende Patienten hätten verlegt werden müssen, als eine Frau mit mehrfachen Hirnblutungen eingeliefert worden sei. Kurz nach dem Eintreffen habe die Patientin im Sterben gelegen. Dann habe sie noch einen weiteren akuten Notfall behandeln müssen: einen Mann, der sich blutend erbrochen habe. Auch ihn habe sie nicht mehr retten können.

Diese Nacht sei schon „schwierig zu verarbeiten“ gewesen, sagt die Assistenzärztin. Und überhaupt: Die Arbeitsbedingungen in den Notaufnahmen seien „unterirdisch“. Manchmal wisse man einfach nicht mehr, „wo oben und unten ist“. Sie will nicht namentlich zitiert werden, da sie sonst Probleme bekommen könnte. Was sie erzählt, bestätigen auch andere Assistenzärztinnen und -ärzte.

In einer Erhebung 2023 gaben fast alle Notfallkliniken Personalengpässe an

Die Notaufnahmen in Deutschlands Krankenhäusern arbeiten am Limit. Laut einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) im Jahr 2023, an der über ein Drittel aller Notfallkliniken in Deutschland teilnahmen, bestanden in 93 Prozent der Kliniken Personalengpässe. 59 Prozent der befragten Notfallaufnahmen gaben für den Tag der Befragung eine teils massive Überlastungssituation an. Mehr als die Hälfte meldeten sich bei der zuständigen Leitstelle ab, da sie keine Patienten mehr versorgen konnten.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wollte die Notfallversorgung mit einer Reform neu organisieren. Das Gesetz sollte das Personal entlasten und die Versorgung der Patienten verbessern. Der Entwurf aus Lauterbachs Ministerium sah vor, dass in „Integrierten Notfallzentren“ schneller und effizienter entschieden werden sollte, welche Fälle dringend sind – und welche nicht. Bestenfalls vorab mit einer Einschätzung am Telefon. Weniger akute Fälle sollten in einer Hausarztpraxis oder außerhalb der Öffnungszeiten in einer Notdienstpraxis versorgt werden.

Die politische Hilfe für die Notfallversorgung in Deutschland bleibt nach dem Ende der Ampelkoalition vorerst aus. Die Notfallreform zeitnah umzusetzen, bleibe aber Lauterbachs Ziel, teilt sein Ministerium mit. Doch weder die FDP noch die Union wollten die Reform im Parlament unterstützen. Dabei sieht auch die Union Handlungsbedarf, fordert aber nach Angaben des Gesundheitspolitikers Tino Sorge weitere Maßnahmen. Der CDU-Abgeordnete kündigt an, „die Notfallreform im Falle eines Regierungswechsels rasch neu auf den Weg zu bringen“. Wie schnell das gehen kann und was genau die Union anders machen wolle, sagt Sorge nicht. Im Wahlprogramm der Union heißt es nur allgemein, man wolle die Notfallversorgung weiterentwickeln und die Rettungsdienste stärken. Ob und wann eine neue Reform kommt, ist unklar.

„Das Scheitern der Notfallreform trifft uns schon arg“, sagt die Vizepräsidentin der DGINA

„Ein großes Problem ist das“, findet Janosch Dahmen, Gesundheitspolitiker der Grünen. Dahmen hat selbst als Notfallmediziner gearbeitet. Die Situation sei prekär, sagt er, denn bis eine neue Regierung die Reform erneut auf den Weg bringen kann, werde es sicher ein bis zwei Jahre dauern.

Und die Lage dürfte sich weiter verschärfen. Christoph Dodt, Chefarzt des interdisziplinären Notfallzentrums München-Bogenhausen, weist darauf hin, dass Notaufnahmen durch eine älter werdende Bevölkerung zunehmend beansprucht würden. Situationen, in denen das Personal stark belastet ist, kämen regelmäßig vor und gefährdeten die Patientensicherheit. Ein zentrales Problem sei zudem, dass es oft zu wenig Kapazitäten gebe, um Notfallpatienten schnell auf andere Stationen zu verlegen und dort weiterzuversorgen. Ulrike von Arnim, Chefärztin der zentralen Notaufnahme am Vivantes Klinikum in Berlin-Neukölln und Vizepräsidentin der DGINA, pflichtet bei: „Das Scheitern der Notfallreform trifft uns schon arg“, sagt sie. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hält eine Reform für dringend erforderlich.

Die Chefärztin Ulrike von Arnim hält eine Notfallreform für dringend erforderlich. (Foto: Winfried Mausolf)

Aber würde die geplante Notfallreform die Situation wirklich verbessern? Viele Fachleute bezweifeln das. Sie wünschen sich etwa eine engere Verzahnung von Notfall- und Krankenhausreform. Auch die Einführung eines Facharztes für Notfallmedizin, wie sie die DGINA seit Langem fordert, war nicht Teil des Gesetzesentwurfs. Den gibt es in den meisten EU-Ländern, in Deutschland aber nicht. Assistenzärztinnen und -ärzte berichten zudem, in Wochenend- und Nachtdiensten ohne Fach- und Oberärztinnen in der Notaufnahme arbeiten und Entscheidungen treffen zu müssen. Chefarzt Dodt sagt, in seiner Klinik sei immer ein Fach- oder Oberarzt im Haus. Er sagt aber auch, dass sich das viele Krankenhäuser nicht leisten könnten. Auch dieses Problem hat Lauterbachs Notfallreform nicht gelöst.

Zudem sind sich die Expertinnen und Experten darin einig, dass es mehr erfahrenes Personal benötigt. Die Fachgesellschaft DGINA beklagt, in Notaufnahmen werde oft im schnellen Wechsel „unerfahrenes“ Personal aus verschiedenen Fachrichtungen eingesetzt. Die Folge seien „Über- oder Unterdiagnostik, Überforderung jungen Personals und eine verzögerte Behandlung“.

Manche Ärzte können keine angemessene Patientenversorgung mehr garantieren

Die Assistenzärztin aus der bayerischen Klinik sagt, sie sei teils allein für die gesamte Notaufnahme und eine weitere Station zuständig gewesen. Auch am Wochenende oder am Abend seien Assistenzärzte und -ärztinnen häufig mit Pflegekräften allein in der Notaufnahme. „Das System ist so auf Kante genäht, dass eine gute Aus- und Weiterbildung nicht gewährleistet ist.“ Fach- oder Oberärzte seien zwar telefonisch erreichbar, um zu helfen, wenn das Personal vor Ort nicht weiterwisse. Hilfe zu holen sei aber trotzdem nicht immer einfach: „Das traut man sich oft nicht, weil man Angst hat, blöd angemacht zu werden.“

Die DKG sieht darin kein Problem. Grundsätzlich seien Fach- und Oberärzte im Krankenhaus jederzeit erreichbar, wenn sie aufgrund der Schwere der Erkrankung gebraucht würden, teilt DKG-Chef Gerald Gaß mit. Assistenzärzte seien ausgebildete Ärzte und arbeiteten unter Anleitung von Fach- und Oberärzten. „Ein Qualitätsmangel ist aus deren Einsatz nicht ableitbar“, findet Gaß.

Wie grenzwertig der Dienst in der Notaufnahme dennoch sein kann, zeigt eine Gefährdungs- und Überlastungsanzeige, die der SZ vorliegt. Darin warnen Assistenzärztinnen und -ärzte eines Krankenhauses in Süddeutschland ihre Hausleitung, dass sie aufgrund der Belastung keine angemessene Patientenversorgung garantieren könnten. Zudem sei die Gesundheit des Personals gefährdet.

Mehrmals wurden Blinddarmentzündungen mit einer Magen-Darm-Grippe verwechselt

Auch andere Assistenzärzte berichten, solche Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen gestellt zu haben, teilweise mehrere pro Jahr. Die Anzeigen werden an Betriebsrat, Klinikleitung, Chefärztinnen und -ärzte weitergeleitet. Letztere müssen dann begründen, wie es zu der Überlastung kommen konnte, und Lösungen vorschlagen. Für den Notfallmediziner Christoph Dodt sind die Überlastungsanzeigen jedoch nur subjektive Momentaufnahmen. Wichtiger sei eine systematische Erfassung der Situation in den Notaufnahmen.

Die Bertelsmann-Stiftung stellte bereits 2022 fest, es mangele an Daten, Transparenz und dadurch auch an gesicherten Erkenntnissen, welche Maßnahmen in Notaufnahmen sinnvoll und zielführend seien. Daher lasse sich schwer beurteilen: Wurde jeweils richtig entschieden? Was hätte anders oder besser laufen können? Und vor allem: Was lässt sich aus der bisherigen Situation lernen? Auch DGINA-Vize von Arnim beklagt eine mangelnde Qualitätskontrolle: „Wir sind ein Hochrisikobereich. Wir brauchen viel mehr und viel bessere Daten.“ Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält die vorhandenen Kontrollen hingegen für ausreichend. Im internationalen Vergleich arbeiteten die deutschen Kliniken auf hohem Niveau.

Marcus Rall, Geschäftsführer des Instituts für Patientensicherheit und Teamtraining, kennt die Misere. Er arbeitete lange in der Notfallmedizin. Als Patientenvertreter sieht er ebenfalls Reformbedarf. Er kenne Fälle, bei denen etwa Leute mit Bauchschmerzen mit der Diagnose Magen-Darm-Grippe nach Hause geschickt worden seien und die Blinddarmentzündung unerkannt geblieben sei. Rall gibt nicht einzelnen Ärztinnen die Schuld: „Das sind hoch motivierte Teams, die den Patienten helfen wollen. Sie leiden auch darunter, wenn das nicht gelingt.“

Das gilt auch für die Assistenzärztin aus dem bayerischen Krankenhaus. Sie arbeitet trotz allem gerne in der Notaufnahme. Gleichzeitig hat sie oft das Gefühl, „dass der Job mich psychisch und physisch fertigmacht“. Und sie sorgt sich um das Wohl ihrer Patienten. „Wenn die Leute wüssten, was in den Notaufnahmen abläuft und wie viele unerfahrene Leute da arbeiten, dann hätten viele noch mehr Angst.“

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