„Ein Schandfleck in der Geschichte Norwegens“, „Verrat“, „verwerflich und erbärmlich“ – viel drastischer hätten die beiden Verfasser es kaum formulieren können. Und sie drückten sich nicht etwa in einem unkontrollierten Impuls-Tweet bei X so aus, sondern in einem Leitartikel in Norwegens größter Tageszeitung Aftenposten. Die Autoren sind weder Wutbürger noch anonyme Trolle, sondern Peter Wolodarski und Christian Jensen, Chefredakteure der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter und der dänischen Tageszeitung Politiken.
Das Duo schrieb, die Dänen und Schweden würden ihr gemeinsames Nachbarland nicht wiedererkennen: Norwegen stelle sich doch so gern als humanistische Großmacht dar, Jahr für Jahr werde in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen, garniert mit salbungsvollen Reden über internationalen Zusammenhalt. Wichtiger noch: Kein Land habe ähnlich profitiert vom Krieg in der Ukraine wie Norwegen. Wie könne es da sein, dass Norwegen so elend wenig für die Ukraine beisteuere?

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Auf den Eklat im Weißen Hauszwischen dem ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenskij und US-Präsident Donald Trump folgten Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und eine öffentliche Erklärung, die kein Zufall ist. Kommt es jetzt zu Trumps Rohstoffdeal? Eine Analyse.
Hat Norwegen die Ukraine empörend wenig unterstützt?
Hintergrund für den zornigen Text: Durch die gestiegenen Öl- und Gaspreise und dadurch, dass die europäischen Länder sich von russischen Importen frei zu machen versuchen, hat Norwegen laut eigenem Finanzministerium 2022 und 2023 zusätzlich 1270 Milliarden Kronen (108 Milliarden Euro) eingenommen – leistet aber wesentlich weniger Hilfe als die anderen skandinavischen Länder. Wolodarski und Jensen rechnen vor, dass Norwegen der Ukraine im vergangenen Jahr nur 17 Milliarden norwegische Kronen (1,45 Milliarden Euro) gezahlt habe, Dänemark hingegen 27 Milliarden Kronen (2,3 Milliarden Euro). Insgesamt hat Norwegen seit Februar 2022 laut dem Ukraine-Tracker des Kieler Instituts für Weltwirtschaft 3,3 Milliarden Euro an Hilfeleistungen in die Ukraine überwiesen, Schweden dagegen 5,4 Milliarden.
Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Støre argumentierte mehrfach, Norwegen sei „Europas bester Freund“, weil das Land nach den Sanktionen gegen Russland seine Gaslieferungen ins übrige Europa gesteigert habe. Das zusätzlich eingenommene Geld lege man langfristig im landeseigenen Ölfonds an, „damit auch künftige Generationen daran teilhaben können“. Was die beiden Autoren zu der Frage verleitet: „Wie konnte es dazu kommen, dass Sie – und die norwegische Regierung – ihre humanistische Supermacht in nationalen egoistischen Interessen versinken lassen?“
Eine besonders pikante Note bekommt das Thema für die norwegische Regierung durch eine überraschende innenpolitische Neubesetzung: Jens Stoltenberg hat in seiner Funktion als Nato-Generalsekretär die Mitgliedsländer immer wieder zu höheren Zahlungen angemahnt. In einem Interview zum Abschluss seiner zehnjährigen Amtszeit sagte der Norweger: „Die größte Herausforderung bestand für mich darin, die Verbündeten dazu zu bewegen, genügend Unterstützung zu leisten.“
Ebenjener Jens Stoltenberg ist nun seit wenigen Wochen Norwegens neuer Finanzminister. Ausgerechnet er, der mit einigen Nato-Mitgliedsländern streng ins Gericht gegangen war und außerordentliche Anstrengungen für außerordentliche Zeiten angemahnt hatte, gibt nun plötzlich den peniblen Kassenwart: Auf die Frage, ob Norwegen der Ukraine nicht endlich mehr beistehen müsse, sagte er, es gebe nun mal die Vorschrift, dass jährlich höchstens vier Prozent des Ölfonds entnommen werden dürften.
Die klaren Worte scheinen etwas zu bewirken
Das wiederum veranlasst nun 47 norwegische Ökonominnen und Ökonomen dazu, die Regierung zu deutlich mehr Unterstützung aufzufordern. Initiator des gemeinsamen Appells war Knut N. Kjær, der den Ölfonds 1998 mitgegründet und dann zehn Jahre lang geleitet hat. Dieser Fonds, in den alle Einkünfte aus dem Öl- und Gasgeschäft fließen, ist mit einem Vermögen von 12 750 Milliarden Kronen (1,1 Billionen Euro) der größte öffentliche Fonds der Welt.
Kjær und seine 46 Mitunterzeichner packen die Regierung bei ihrem eigenen Argument: Støre hatte ja argumentiert, der Fonds solle zukünftigen Generationen ein Leben in Freiheit und Sicherheit gewähren. Die Autoren schreiben, beides könne die Regierung nachfolgenden Generationen nur noch gewährleisten, „indem wir der Ukraine das geben, was sie braucht, um einer übermächtigen Macht zu widerstehen“.
Stoltenbergs Argument, ihm seien die Hände durch besagte Vier-Prozent-Vorgabe gebunden, pulverisieren die Ökonomen: Die Direktive sei keine starre Regel, die jedes Jahr befolgt werden müsse, die Regierung habe sehr wohl Handlungsspielraum. Was sich tatsächlich leicht belegen lässt: 2020 gab Norwegen aufgrund der Corona-Krise ebenfalls mehr Geld aus dem Fonds aus als besagte vier Prozent.
Die Regierung scheint nun tatsächlich ihre bisherige konservative Linie verlassen zu wollen. Vize-Außenminister Eivind Vad Petersson kündigte am Montagabend an, man werde am Donnerstag im Parlament einen Plan für „verstärkte Ukraine-Hilfen“ vorstellen.