Aufhören? Chris de Ruyter van Steveninck denkt gar nicht daran. „Wir werden demnächst anfangen, zu bohren“, sagt er. „Wir glauben, wir machen das Richtige.“ De Ruyter van Steveninck ist der Vorstandsvorsitzende der Firma One-Dyas und damit Herr über ein Projekt, das Bewohner der Nordseeinsel Borkum genauso auf die Barrikaden bringt wie Umweltschützer – und das auch neuen Konfliktstoff für die Ampelkoalition in Berlin birgt. Der Mann will nach Gas bohren, und zwar im großen Stil.
Seit diesem Dienstag kann man von Borkum aus sehen, was das bedeutet. Etwa 23 Kilometer vor der Insel steht nun eine Förderplattform im Meer, in Sichtweite vieler Strandurlauber. Sie steht aber nicht in deutschen Gewässern, sondern in niederländischen – ganz knapp hinter der Grenze. One-Dyas will hier ein vier Kilometer tiefes Loch bohren, bis hinein in das Erdgasfeld N05-A. Drei Monate solle das dauern, heißt es bei dem niederländischen Unternehmen. Parallel dazu werde eine Pipeline in die Niederlande verlegt. Geht es nach de Ruyter van Steveninck, soll es Ende des Jahres losgehen mit der Erdgasförderung. Auch unter der deutschen Nordsee.
Besser heimische Ressourcen als Importe, sagt das Unternehmen
Das Projekt verursacht seit Jahren Ärger. 60 Milliarden Kubikmeter Erdgas werden in dem Feld vermutet, rund die Hälfte davon unter deutschen Hoheitsgewässern. Doch Umweltschützer und Bürgerinitiativen kämpfen erbittert gegen das Projekt. „Wir sind entsetzt“, schrieb Anfang der Woche Fridays for Future in einem offenen Brief an Landes- und Bundesminister. Schließlich habe die Weltgemeinschaft erst im vorigen Winter, beim Klimagipfel in Dubai, den Ausstieg aus fossilen Investments beschlossen. „Und nun planen Sie, ein neues Gasfeld vor der Küste zu ermöglichen?“ Greenpeace trommelte vorige Woche zum Protestcamp auf See und löste es erst auf, als One-Dyas mit hohen Schadenersatzforderungen drohte. Die Deutsche Umwelthilfe bemüht, zusammen mit Partnern, die Gerichte.
Das Unternehmen selbst verweist auf die Unabhängigkeit von fernen Gasimporten. Sowohl die Niederlande als auch Deutschland bräuchten für eine Übergangszeit von zehn bis 20 Jahren noch Erdgas, wirbt de Ruyter van Steveninck. Schließlich gehe der Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft nicht von heute auf morgen. Da sei es doch schlauer, heimische Ressourcen zu erschließen, als noch mehr Gas in Katar oder den USA einzukaufen. Die Ressourcen im Mündungsgebiet der Ems dürften reichen, um in den kommenden Jahren etwa ein Prozent der deutschen Gasnachfrage zu decken.
Im eigenen Land, zumal bei der neuen rechtskonservativen Regierung, rennt er damit offene Türen ein. One-Dyas hat für das Vorhaben, an dem auch der Staatskonzern EBN beteiligt ist, mittlerweile alle nötigen Genehmigungen beisammen. Klagen prallten an niederländischen Gerichten ab.
Die Gräben gehen quer durch die Regierungen
In Deutschland dagegen ziehen sich Gräben quer durch Regierungen in Bund und Land. In Niedersachsen etwa, wo die rot-grüne Regierungskoalition die Klimaneutralität schon bis 2040 anpeilt, kämpft vor allem der grüne Umweltminister Christian Meyer gegen das Projekt. „Die Speicher sind voll, wir brauchen das Gas nicht“, sagt er. „Fossile Energien müssen im Boden bleiben.“

Meyer bangt zudem um das einzige Unesco-Weltnaturerbe, das Niedersachsen zu bieten hat: das Wattenmeer. Mit dem Welterbestatus seien Förderaktivitäten nicht vereinbar, hielt die Unesco bei einem Treffen in Delhi Ende Juli fest. Auch Projekte in der Nachbarschaft, wie etwa das von One-Dyas, blieben „eine große Sorge“. Verliere das Wattenmeer den Status als Weltnaturerbe, sei das für Niedersachsen ein harter Rückschlag, warnt Meyer. „Schließlich lockt auch das Touristen.“
Schon 2021 hatte die Vorgängerregierung in Hannover, eine Koalition aus SPD und CDU, sich gegen die Gasförderung in der Nordsee gestellt. Damals stand der Klimaschutz noch über der Sicherheit der Gasversorgung. Das änderte sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Stopp russischer Gaslieferungen. Vor allem Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) ist offener für das Projekt als sein Umweltkollege Meyer. Ihm untersteht die Bergbaubehörde des Landes, die in Kürze darüber entscheiden soll, ob die Niederländer eine Bohrung Richtung Deutschland ablenken dürfen.
Die niedersächsische SPD zeigt nach Berlin
Doch wie gut der Draht von One-Dyas zu den Sozialdemokraten im Land ist, belegt ein Schreiben, das de Ruyter van Steveninck im Juli an die Landesregierung schickte. Darin lobte er die enge Zusammenarbeit mit Wirtschaftsminister Lies und Ministerpräsident Stephan Weil – um sich gleich anschließend über die niedersächsische Naturschutzbehörde zu beschweren, die dem Grünen Meyer untersteht. „Es scheint, wir stehen an einer Weggabelung“, warnte er in dem Schreiben und verwies auf die 300 Millionen Euro, die sein Unternehmen schon investiert habe. Das Wort „Schadenersatz“ erwähnte er nicht, aber es steht in Großbuchstaben zwischen den Zeilen.
Öffentlich will sich die SPD Niedersachsen aktuell nicht mehr positionieren. Und schiebt die Verantwortung weiter. Am Ende müsse die Bundesregierung entscheiden, sagt ein Sprecher von Lies’ Ministeriums, „das ist eine energie- und geostrategische Entscheidung, die in Berlin getroffen werden muss“.
Wohl wahr – und damit könnte der Ärger um das Projekt nun in der ohnehin geplagten Ampelkoalition ankommen. Denn ehe das Gas gefördert werden kann, braucht es eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen Deutschland und den Niederlanden, ein sogenanntes „Unitarisierungsabkommen“. Schließlich stammen die Moleküle unter der Nordsee teils aus niederländischem, teils aus deutschem Grund. Die Lagerstätte muss also irgendwie aufgeteilt werden, und auch für die künftige Zusammenarbeit der Behörden braucht es Regeln.
Kanzler Olaf Scholz ist ein großer Freund zusätzlicher Gasförderung
Zuständig dafür sind zwei grüne Ministerien: Federführend ist das Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Robert Habeck, das sich dabei mit dem Außenministerium von Annalena Baerbock abstimmt. Es handele sich bei dem Abkommen um „eine von verschiedenen Bedingungen für eine mögliche Förderaufnahme“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. „Die Verhandlungen dazu laufen allerdings noch.“
Die Sache ist diffizil. Sie stellt die Koalition vor die Frage, ob sie lieber Klimaschutz will oder Gas. Einerseits ist der Koalitionsvertrag in dieser Hinsicht klar: „Wir wollen keine neuen Genehmigungen für Öl- und Gasbohrungen […] für die deutsche Nord- und Ostsee erteilen“, heißt es dort. Andererseits wurden auch diese Zeilen vor der Energiekrise gemeißelt. Vor allem Kanzler Olaf Scholz ist seither ein großer Freund zusätzlicher Gasförderung, und auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) macht dem Vernehmen nach Druck, das Abkommen mit den Niederlanden endlich zu schließen.
Ihre beiden grünen Kollegen dagegen müssten einem Projekt den Weg bereiten, für das die meisten ihrer Parteifreunde wenig Verständnis haben dürften, und Umweltschützer erst gar nicht. „Ausgerechnet Habeck und Baerbock, die für nationalen und internationalen Klimaschutz Zuständigen, würden sich damit auf die Seite der Trumps dieser Welt stellen“, sagt Greenpeace-Chef Martin Kaiser. „Von Leuten also, die das Klimaabkommen von Paris mit Füßen treten.“
Das Verwaltungsgericht Oldenburg fällt eine Entscheidung
Einstweilen aber haben am Mittwoch Richter am Verwaltungsgericht Oldenburg für Entspannung gesorgt. Sie befassten sich mit einem knapp acht Kilometer langen Seekabel, das die Plattform mit Strom versorgen soll – und zwar aus einem deutschen Windpark. Niedersachsens Naturschutzbehörde genehmigte die Verlegung des Seekabels unter Auflagen, doch die Deutsche Umwelthilfe legte Widerspruch ein – unter anderem mit Verweis auf Riffe, die von den Verlegearbeiten in Mitleidenschaft gezogen werden.
Dieser Widerspruch, so entschied das Gericht am Mittwoch, habe aufschiebende Wirkung. Das Kabel kann also erst einmal nicht verlegt werden, und die Auflagen erlauben dies auch nur zwischen Juli und September. Ohne Kabel kein Strom, ohne Strom keine Förderung. Ob der geplante Förderstart Ende des Jahres zu halten ist, sei nun fraglich, sagt auch de Ruyter van Steveninck. Das Urteil sei eine Enttäuschung.
Zumal die Niederländer noch viel Größeres vorhaben in der Nordsee, denn das Gasfeld N05-A soll nur der Anfang sein. „Es gibt Potenzial für weitere Felder“, sagt der One-Dyas-Chef, vor allem nördlich der ersten Bohrung, auch unter deutschem Boden. Für beide Seiten, Unternehmen und Umweltschützer, geht es um mehr als nur die erste Bohrung am Rande des Wattenmeers.