Nordrhein-Westfalen:"Das Ruhrgebiet wird runtergeschrieben"

A boy flashes victory signs as he jumps in the Works Swimming Pool in the yard of the former coking plant of the Zeche Zollverein UNESCO World Heritage site in Essen

Das Schwimmbad mitten in der ehemaligen Kokerei der Zeche Zollverein: Kunstprojekt und Symbol des Strukturwandels der Region.

(Foto: Wolfgang Rattay/Reuters)

Es sind nicht nur Patrioten, die sich gegen den schlechten Ruf des Ruhrpotts wehren und auf die Lebensqualität der Region verweisen. Selbst die AfD tut sich hier schwer, mit Krisenstimmung Wähler zu ködern.

Reportage von Jan Bielicki, Essen

Sie haben Biertische aufgestellt, ausgeschenkt wird marokkanischer Minzetee. Und weil noch dazu die Frühlingssonne scheint, sieht an diesem Markttag die sonst so leere, graue Fläche des Katernberger Marktes richtig einladend aus. Es sind Tage wie dieser, an denen sich Jens Kölsch-Ricken besonders wohlfühlt im Essener Norden. An solchen Tagen "mit offenen Fenstern hier durch die Straßen zu fahren und all diese exotischen Gerüche hereinzulassen", schwärmt er, "gibt es etwas Schöneres?"

Der rundliche Mann ist Pfarrer im Bergmannsdom, wie sie die große, rote evangelische Kirche am Katernberger Markt hier nennen. Den Tee schlürft er in dienstlicher Funktion - das Heißgetränk ist Teil einer Initiative ehrenamtlicher Helfer, die Bewohner des Stadtviertels miteinander ins Gespräch zu bringen. Frank Müller ist auch gekommen, auch dienstlich gewissermaßen, denn Katernberg gehört zum Wahlkreis Essen-Ost, dessen Landtagsmandat der Sozialdemokrat bei der Wahl Mitte Mai zu gewinnen hofft - mit guter Aussicht auf Erfolg: Hier lag die SPD seit Jahrzehnten immer weit vorn.

Und daran hat sich nichts geändert, seit in den Achtziger Jahren die Zeche Zollverein schloss, heute längst Museum und Unesco-Welterbe, nur eine paar Hundert Meter vom Katernberger Markt entfernt.

Dort Detroit, hier Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Essen

Müller ist in diesen Tagen dauernd unterwegs, gerade auch in jenen Teilen seines Wahlkreises, denen nicht der beste Ruf anhängt. Wenn von jenen Vierteln Essens nördlich der Autobahn A 40, die den Wahlkreis und die ganze Stadt durchschneidet, fallen oft böse Worte: Problemviertel, No-Go-Area und neuerdings, in Anspielung auf die heruntergekommenen Industriestädte, in denen US-Präsident Donald Trump so überraschend viele Wähler fand, auch: Rostgürtel.

Seither werden gerne Parallelen gezogen: dort Detroit, hier Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Essen. Könnten nicht, wie drüben die Demokraten an Trump, die Sozialdemokraten hier entscheidende Stimmen an die verlieren, die sich als größte Fans des populistischen US-Präsidenten hierzulande geben - die AfD? Den gebürtigen Essener Kölsch-Ricken machen solche Vergleiche "richtig wütend", der Pfarrer schimpft: "Das Ruhrgebiet wird runtergeschrieben."

Mit diesem Gefühl ist er nicht allein. 15 Minuten Busfahrt mit der Linie 170 weiter, führt Matthias Rietschel durch die Straßen des Stadtteils Kray, der sich zu beiden Seiten der ominösen Trennlinie A 40 ausbreitet. Kray ist mit seinen etwa 20 000 Einwohnern im Kleinen ein Spiegelbild des Wahlkreises und der Stadt - ohne freilich die wohlhabenden Villengegenden in den grünen Hügeln des idyllischen Ruhrtals ganz im Süden. An jeder Ecke grüßen ihn Kinder jeden Alters. In seinem "Übehaus" im Jugendstil-Rathaus aus der Zeit, als die Zechen- und Industriestadt Kray eine der reichsten Gemeinden Preußens war, hat der Orchesterpädagoge vielen Kindern die Musik nahegebracht - gerade auch jenen, denen daheim, sei es aus Geldnot oder Bildungsferne der Eltern, nie ein Musikinstrument ins Haus kam.

In Essen lebt es sich sicherer als in Freiburg

Auch Rietschel ärgert sich über "das völlig falsche Bild, das den Leuten vom Ruhrgebiet vermittelt wird". Was er unbedingt zeigen will, ist ein buntes Stück Essen, in dem das Engagement der Bewohner eher höher ist als anderswo. 74 Vereine gibt es in Kray, so viele wie nirgends sonst in der Stadt, vom Helferkreis am örtlichen Flüchtlingsheim bis zum Naturschutzverein Volksgarten, der den lange vernachlässigten Stadtpark wieder zu einer grünen Oase gemacht hat.

In Kray jedenfalls haben sie sich schnell öffentlichen Auftritten von Rechtsextremisten entgegengestellt. Die NPD hat hier ihre Landeszentrale, die Neonazis marschierten zum 1. Mai auf dem Markt auf, zwei Jahre in Folge. Bevor das ein drittes Mal geschehen konnte, trommelte Peter Heidemann, der mit seiner Frau ein Lottogeschäft in der Hauptgeschäftsstraße betreibt, die anderen Geschäftsleute im Stadtteil zusammen. Sie besetzten den zentralen Platz mit einem Frühlingsfest, nun schon im dritten Jahr - "eine Riesensache".

Der Geschäftsmann mag auch sonst nicht klagen: Bioläden und smarte Boutiquen finden sich in der zentralen Krayer Straße mit ihren Gründerzeitbauten zwar nicht, aber für die Bäcker, Metzger und anderen Läden laufen die Geschäfte seiner Einschätzung nach gut. Heidemann sagt: "Ich möchte nicht anderswo leben." Und es gibt neben schlechten Zahlen ja auch durchaus Statistiken, die den Ruhr-Patrioten recht geben - etwa, wenn es um Kriminalität geht: Allen Vorurteilen zum Trotz lebt es sich nach den Zahlen der Polizei in Essen, also mitten im größten städtischen Ballungsraum Deutschlands, sicherer als in Berlin, Hannover und sogar im beschaulichen Freiburg.

Natürlich, Probleme gibt es. Der Musikpädagoge Rietschel erlebt unter seinen jungen Schülern oft, wie knapp es daheim zugeht. Bei 11,9 Prozent liegt die Arbeitslosenquote in Essen und damit doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Und an der Krayer Straße, allerdings südlich der A 40, stehen auch ein paar der berüchtigten Schrottimmobilien, Häuser, von deren Fassaden Putz und Farbe blättern und vor denen sich bisweilen der Sperrmüll türmt. "Wir kriegen die Besitzer leider nicht dazu, etwas zu tun", klagt der SPD-Mann Müller. Allerdings kann die Stadt mithilfe eines neuen Gesetzes nun rigoroser gegen unseriöse Vermieter vorgehen und besonders heruntergekommene Häuser für unbewohnbar erklären.

An einem Laternenmast warnt ein AfD-Plakat vor No-Go-Areas

Solche Häuser fallen ins Auge, weil sie an Hauptverkehrsstraßen stehen, wo wegen Lärm und Gestank niemand leben mag, der sich anderes leisten kann. Doch in den Seitenstraßen sieht es gleich anders aus: Über hübsch renovierten Bergmannsiedlungen flattern die Fahnen von Fußballklubs, die Bäume vor den Reihenhäusern sind grün. An einem Laternenmast warnt ein AfD-Plakat vor No-Go-Areas.

Eine Gegend, in die sich niemand hineintraut, kann aber auch Günter Weiß nicht nennen: "Wir haben das ein wenig überspitzt", sagt er. Weiß ist der Wahlkreiskandidat der AfD, er saß 15 Jahre für die rechten Republikaner im Stadtrat, aber der Bauingenieur gehört nicht zu den Lautsprechern seiner Partei. Nein, sagt er, das Ruhrgebiet sei nicht mit jenen heruntergewirtschafteten Gegenden im Rostgürtel der USA zu vergleichen: "Hier wird schon viel dagegen getan, dass es nicht dazu kommt." Aber eben nicht genug, um das Gefühl des Niedergangs zu beschwichtigen, das ihn offenbar umtreibt. "Wenn es noch schlimmer ..." - "Wenn noch mehr Flüchtlinge ..." - "Wenn der Islam noch stärker ..." - viele seiner Satzanfänge weisen eher in eine befürchtete Zukunft als in die Gegenwart seines Wahlkreises.

Jens Kölsch-Ricken trägt an diesem Tag ein rosa Schlabber-T-Shirt, doch die Gläser seiner Nickelbrille sind klar. "Natürlich gibt es hier ein großes Armutsproblem." Und ein rechtes Wählerpotenzial sieht der Pfarrer auch in seiner Gemeinde: "Das ist hier leider so wie überall sonst auch." Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

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