Internationale Sicherheitspolitik:Der Griff nach dem Eismeer

Internationale Sicherheitspolitik: Einflusssphären abstecken - so lautet seit Jahrzehnten die Devise rund um den Nordpol. Hier die russische Kohlebausiedlung Barentsburg auf der norwegischen Insel Spitzbergen. Die Siedlung gibt es seit den 1930er-Jahren. Die russischen Fahnen sind aktuell, das Schild eher nicht: "Kommunismus ist unser Ziel" steht da.

Einflusssphären abstecken - so lautet seit Jahrzehnten die Devise rund um den Nordpol. Hier die russische Kohlebausiedlung Barentsburg auf der norwegischen Insel Spitzbergen. Die Siedlung gibt es seit den 1930er-Jahren. Die russischen Fahnen sind aktuell, das Schild eher nicht: "Kommunismus ist unser Ziel" steht da.

(Foto: Jonathan Nackstrand/AFP)

Lange spielte der Nordpol keine große Rolle. Klimawandel und der Wettstreit der Großmächte könnten die Arktis aber zum Schauplatz internationaler Konflikte werden lassen, wie der Sicherheitsexperte Michael Paul in seinem ausgezeichneten Buch zeigt.

Von Nicolas Freund

Mitte Juni kam die Meldung, Kanada und Dänemark hätten nach fast einem halben Jahrhundert den "Whisky-Krieg" beendet. Bei diesem Konflikt ging es nicht um das bessere Destillat, sondern um eine Insel in der Arktis, nämlich die Hans-Insel zwischen Grönland und der zu Kanada gehörenden Ellesmere Island. Wobei Insel fast zu viel gesagt ist, eigentlich ging es nur um einen etwas größeren Stein im arktischen Meer, auf den Kanada und Dänemark abwechselnd ihre Nationalflaggen hissten und zum Zeichen des eigentlich guten Willens immer eine Flasche Whisky für die Gegenseite deponierten. Der "Krieg" wurde nun beendet, indem einfach die Grenze quer über den Stein gezogen wurde.

Dieser Konflikt hat aber mehr als nur Kuriositätenwert, denn an ihm zeigen sich gleich mehrere der ungeklärten oder noch drohenden Probleme im arktischen Raum. Deshalb erwähnt ihn auch der Sicherheitsexperte Michael Paul in seinem Buch "Der Kampf um den Nordpol", in dem er sehr akribisch die wichtigsten Fakten zu allen aktuellen Entwicklungen zwischen Alaska und Norwegen, Grönland und Russland zusammengetragen hat.

Der Klimawandel macht Seerouten möglich

Dass die Arktis in den nächsten Jahrzehnten an außenpolitischer Relevanz gewinnen wird, liegt vor allem am Klimawandel. Zurückgehendes Eis machen Schiffrouten wie die berühmte Nordwest-Passage, aber auch neue Handelswege nördlich von Russland befahrbar, die vorher nur unter immensem Aufwand mithilfe von Eisbrechern und selbst dann nur unter großen Gefahren nutzbar waren. Außerdem werden Rohstoffquellen erreichbar, deren Erschließung vorher viel zu teuer und aufwendig gewesen wäre.

In der Arktis gibt es noch große Menge fossiler Energieträger, Erze, Mineralien, Edelmetalle und Metalle der Seltenen Erden auszubeuten, weshalb Russland schon 2007 in 4000 Metern Tiefe seine Nationalflagge auf den Meeresboden gepflanzt hat. Eine Machtdemonstration, denn diese Fahne auszutauschen und eine Flasche Whisky zu deponieren ist wesentlich aufwendiger als auf der Hans-Insel.

Zumal die Ambitionen und Fähigkeiten der derzeit im hohen Norden aktiven Akteure sehr verschieden sind: von Island, das mit gerade drei Schiffen der Küstenwache in den eigenen Gewässern patrouilliert, bis zur russischen Eisbrecher- und Atom-U-Bootflotte. Denn ein weiterer Faktor, der die Arktis für Großmächte relevant macht, sind die vergleichsweise kurzen Wege, nicht nur für Containerschiffe, sondern auch für Interkontinentalraketen. Russland und die USA haben deshalb in der Vergangenheit schon beide bewiesen, dass ihre U-Boote in der Lage sind, am Pol das Eis zu durchbrechen und von dort aus Raketen zu starten.

Russland ging besonders aggressiv vor

Überhaupt, das stellt Paul in vielen Beispielen dar, hat sich vor allem Russland in den letzten Jahrzehnten ähnlich aggressiv verhalten wie auch in anderen Weltregionen und sogar versucht, die eigene Wirtschaftszone um Hunderte von Seemeilen auszudehnen. Den Krieg in der Ukraine konnte Paul in dem Buch nur noch am Rande berücksichtigen und manche Einschätzungen in seinem Fazit, etwa gegenseitige Transparenz zwischen Nato und Russland bei der Stationierung von Marschflugkörpern oder "Informations- und Verifikationsregime", erscheinen mit dem heutigen Wissen nicht falsch, aber die Probleme liegen derzeit an anderer Stelle. Denn mit dem möglichen Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands werden sich die Fronten in der Arktis eher weiter verhärten.

Paul hat inzwischen einen Aufsatz zu den aktuellen Entwicklungen nachgelegt, in dem er schreibt: "All dies bedeutet, dass ein Konflikt in der Arktis als Ergebnis von Ereignissen außerhalb der Region nicht mehr ausgeschlossen werden kann." Noch ein Grund mehr, sich mit dieser Region in Zukunft intensiver zu befassen. Wobei man einwenden muss: Wenn es um die russische Flotte so steht wie um die Armee, dann ist die Gefahr durch Russland für die Nato-Staaten in der Region vielleicht doch nicht ganz so groß, wie befürchtet.

Internationale Sicherheitspolitik: Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte. Herder Verlag, Freiburg 2022. 287 Seiten, 18 Euro. E-Book: 13,99 Euro.

Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte. Herder Verlag, Freiburg 2022. 287 Seiten, 18 Euro. E-Book: 13,99 Euro.

Als anderen, eher unvermuteten Akteur in der Arktis identifiziert Paul in seinem Buch nämlich längst China, das sich selbst als "near Arctic state" bezeichnet, obwohl der nördlichste Hafen der Volksrepublik 5700 Kilometer vom Nordpol entfernt liegt. Mitmischen wollen die Chinesen bei unerschlossenen Rohstofflagern sowie günstigen Raketenstartorten natürlich trotzdem, und mancher Parteikader träumt wohl bereits von einer neuen Seidenstraße im hohen Norden. So konnten große Immobilienkäufe von Chinesen in Island und Finnland, angeblich um dort Ferienanlagen zu errichten, im letzten Moment verhindert werden. Der chinesische Eisbrecher Schneedrache ist trotzdem schon jetzt ständig in der Arktis unterwegs.

Nüchtern, sachlich und fundiert zeichnet Paul diese größten Konflikte in der Arktis nach, die alle das Potential haben, in den nächsten Jahrzehnten die Weltpolitik mitzubestimmen. Auch Themen wie die angestrebte Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark, die Rolle der indigenen Bevölkerung und die bedrohte Natur spricht er an und betont ihre Relevanz für politische Entscheidungen. Das Buch ist so klar strukturiert, dass der Leser darin die ganze Expedition zum Pol antreten oder direkt zu speziellen Zielen navigieren kann. Eine lohnenswerte Reise in ein künftiges Konfliktfeld und ein Standardnachschlagewerk zu politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevanten Themen im arktischen Raum.

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