Es war wieder eine unruhige Nacht in der ukrainischen Garnisonsstadt Pokrowsk, dem umkämpften Verkehrsknotenpunkt im Osten der Ukraine. Um vier Uhr morgens beschossen die langsam auf die Stadt vorrückenden Russen erst das nahe Dorf Nowotrojizke und beschädigten Pokrowsks Militärverwalter zufolge mehrere Gebäude. Zwei Stunden später traf es das Dort Schewtschenko, dann das Zentrum von Pokrowsk.
„Vernachlässigen Sie nicht Ihr eigenes Leben! Es ist sehr gefährlich, sich in der Gemeinde aufzuhalten! Bringen Sie sich so schnell wie möglich in Sicherheit“, rief Militärverwalter Serhij Dobrak die verbleibenden Einwohner auf – und fügte hinzu, „aus technischen Gründen“ könne kein Wasser durch die Leitungen fließen. Fast die Hälfte der angegriffenen Stadt ist bereits ohne Strom, die kommende Heizsaison falle leider ebenfalls aus, so Dobrak.
Immer noch sind schätzungsweise 12 000 Menschen in der Stadt, dabei stehen die Russen, so Jurij Butussow vom Infodienst Censor, nur noch sieben Kilometer vor der Stadt, werfen sie Dobraks Stellvertreter zufolge regelmäßig tonnenschwere Fliegerbomben auf Pokrowsk ab. Das Lokalfernsehen Orbit zeigte am Freitag Bilder aus einer Stadt, in deren Wohnviertel bereits Hunderte weiß angestrichene Drachenzähne, das sind dreieckige Betonblöcke zum Aufhalten von Panzern und anderen Fahrzeugen, den Angriff erwarten.
In der Ostukraine fehlen die Ressourcen, um Russland abzuwehren
Auch an etlichen anderen Stellen im Osten der Ukraine sind russische Truppen auf einem langsamen Vormarsch, stimmen ukrainische Analysten oder das Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington überein. Von der zentralen Verbindungsstraße, die aus Pokrowsk weiter nach Kostjantyniwka und in die Garnisonsstadt Kramatorsk führt, sind die Russen dem Militärkorrespondenten Bohdan Miroschnykow zufolge nur noch fünf Kilometer entfernt. Zwischen der Stadt Myrnohrad und den Russen lägen sogar nur noch drei Kilometer, schon kämpften sie in wichtigen Städten wie Tschassiw Jar, Torezk und an der Stadtgrenze von Selydowe oder Kupjansk, fasst Censor-Chef Butussow zusammen.
Die Lage ist bedrohlich – in Stellungnahmen des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij und seines militärischen Kommandeurs General Oleksandr Syrskyj kommt diese Bedrohung aber selten vor. Selenskij erwähnte die Ostukraine bei seiner „Siegesplan“-Rede im ukrainischen Parlament am 16. Oktober mit keinem Wort. General Syrskyj unterstrich am Sonntagmorgen, er habe gerade die auf russischem Gebiet in der Region Kursk kämpfenden ukrainischen Einheiten besucht und „eine Reihe von Entscheidungen getroffen“.
Butussow, der die meiste Zeit bei ukrainischen Einheiten an der Front verbringt, kritisierte Selenskijs Schweigen über die Lage in der Ostukraine scharf. Der Präsident habe weder erklärt, warum der Kampf in Kursk notwendig sei, noch habe er erwähnt, dass dadurch bedeutende Reserven und sehr große Ressourcen an Waffen und Munition gebunden würden – während sie in der Ostukraine fehlen. Die französische Tageszeitung Le Monde berichtete über die Beerdigung des Offiziers Ihor Hryb, der am 2. Oktober Suizid begangen habe, anstatt als Kommandeur des 186. Bataillons der ukrainischen Armee einen Befehl auszuführen, der dem Offizier wegen mangelnder Artillerie und Panzerfahrzeuge gegen die vorrückenden Russen als Todeskommando für seine Männer erschien. Zwei Tage später sollen dem Bericht zufolge etwa 100 Soldaten des 187. Bataillons ihre Stellungen verlassen haben, um an einem Protest gegen den Mangel an Waffen und Ausbildung teilzunehmen.
Butussow zufolge fehlen – wie schon im Falle anderer an die Russen verlorener Städte – ausgebaute Verteidigungslinien. „Es gibt nirgendwo Defensivpositionen“, wie von Drohnen aufgenommene Videos von Kämpfen belegten. Präsident Selenskij sei in seinem „Siegesplan“ weder auf das Fehlen der Verteidigungslinien eingegangen, noch habe er einen Plan vorgestellt, wie und wann die russische Offensive in der Ostukraine gestoppt werden solle.
Munition, Raketen – und nun auch noch 12 000 Soldaten aus Nordkorea für Putin?
Zudem tut Russland weiter neue Quellen an Munition und Waffen auf. Nach Iran ist dies etwa Nordkorea, mit dem Putin kürzlich einen Beistandspakt unterschrieben hat. Dem südkoreanischen Geheimdienst NIS zufolge soll Nordkorea seit August 13 000 Schiffscontainer mit bis zu acht Millionen 122- und 152-Millimeter-Granaten, Raketen und Panzerfäusten nach Russland verschifft haben – Munitionsmengen, die laut dem ukrainischen Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow Lieferungen aller anderen Länder weit übertreffen und „einen Unterschied an der Front machen“.
Nun kommen womöglich noch Tausende Soldaten hinzu. Der südkoreanischen Agentur Yonhap zufolge sollen vier Brigaden mit bis zu 12 000 nordkoreanischen Soldaten im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden. Der NIS meldete, sieben russische Schiffe hätten zwischen dem 8. und 13. Oktober bereits rund 1500 nordkoreanische Soldaten nach Russland gebracht. Kiews Militärgeheimdienstchef Budanow teilte mit, 2600 Nordkoreaner sollen demnach zuerst in der Region Kursk eingesetzt werden. Kiew will bei einem Angriff am 3. Oktober in der besetzten Region Donezk sechs nordkoreanische Offiziere getötet oder verletzt haben, sagten Geheimdienstler der Kyiv Post.
Westliche Bestätigungen für diese Angaben fehlen bisher. Ein russischer Telegram-Kanal zeigte am 18. Oktober angeblich nordkoreanische Soldaten auf einem Trainingsgelände, das in Sergejewka in der russischen Region Ferner Osten liegen soll. Der ukrainische Regierungsdienst Spravdi wiederum veröffentlichte ein Video, das nordkoreanische Soldaten beim Empfang von Ausrüstung in Russland zeigen soll. Eine russische Militärquelle bestätigte dem russischsprachigen Dienst der BBC, dass „eine Anzahl von Nordkoreanern angekommen ist“. Es wäre das erste Mal, dass eine ausländische Regierung massiv eigene Soldaten in den Ukrainekrieg schickt.