Vereinigtes Königreich:Jeder gegen jeden

Vereinigtes Königreich: Rishi Sunak mit seiner Frau Akshata Murty sowie britischen und ukrainischen Soldaten bei einer Schweigeminute zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Rishi Sunak mit seiner Frau Akshata Murty sowie britischen und ukrainischen Soldaten bei einer Schweigeminute zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine.

(Foto: Tayfun Salci/Imago/Zuma Wire)

Eigentlich wollte der britische Premierminister Rishi Sunak diese Woche endlich das leidige Ringen um das Nordirland-Protokoll beenden. Nun aber ist er mittendrin in einem Machtkampf, in dem es zugeht wie in einem Fußballspiel im England der Achtzigerjahre.

Von Michael Neudecker, London

Ein später Abend in London in dieser Woche, Mark Logan schaut auf die Uhr, schon halb zehn, er gehe jetzt nach Hause, sagt er, und dann checke er gleich seine E-Mails. Aber das Ergebnis kenne er ja schon: "Wieder keine einzige Mail zum Nordirland-Protokoll." Die Wähler des 39-jährigen Tory-Abgeordneten Mark Logan leben im Wahlkreis Bolton North-East in der Nähe von Manchester, seit 2019 sitzt er im Unterhaus, aber es wäre gar nicht so abwegig, wenn die Wähler gerade von ihm wissen wollten, was es denn auf sich hat mit dieser Nordirland-Sache. Mark Logan war parlamentarischer Staatssekretär im Nordirland-Büro, ehe er das Amt im Juli vergangenen Jahres wie viele andere aus Protest gegen Boris Johnsons Regierungsstil niederlegte, und er ist Nordire, geboren und aufgewachsen in der Nähe von Belfast. Wenn er spricht, ist nicht zu überhören, wo seine Heimat ist.

Aber, und das ist nun sein Punkt, die Nordirland-Sache ist ein Thema erfunden von Politikern für Politiker. Nicht für die Menschen da draußen, im echten Leben. Bei ihm selbst ist es ja auch so: Mark Logan lächelt gequält, wenn man ihn auf das Nordirland-Protokoll anspricht, und den erbitterten Machtkampf, den es inzwischen ausgelöst hat. Mark Logan steht damit gewissermaßen stellvertretend für die allgemeine Gefühlslage in Westminster. Das Nordirland-Protokoll nervt. Es ist der Herpes des Brexit-Votums, der nicht weggehen will.

"Das Nordirland-Protokoll gehört nicht zu den Topthemen, die die Wähler beschäftigen."

Der Meinungsforscher James Johnson drückt es am Freitag am Telefon etwas sachlicher aus, er sagt: "Das Nordirland-Protokoll gehört nicht zu den Topthemen, die die Wähler beschäftigen." Aber, und das wiederum ist nun sein Punkt: Das heißt nicht, dass es keine Rolle spielt. Im Gegenteil, "es wird als Anzeichen verstanden, wie Politiker performen", sagt Johnson. Das heißt, wenn Premierminister Rishi Sunak es schafft, dieses jahrelange Dauerthema abzuhaken, "dann erzeugt das für ihn positive Schlagzeilen, die zeigen, dass er etwas geschafft hat". Das funktioniert allerdings auch andersherum.

Und deshalb ist das Nordirland-Protokoll nun Spielball und Spielfeld zugleich, in einem Gegeneinander, das man sich wie ein Fußballspiel im England der 1980er-Jahre vorstellen muss: voller Grätschen und Schlamm. Tories kämpfen gegen Tories, das Wort "unacceptable" fällt praktisch täglich, die Westminster-Reporter sind im "Resignation-watch"-Modus, es gab interne Rücktrittsandrohungen. Schon wieder.

Das Nordirland-Protokoll ist ein Ungetüm, das vom früheren Premier Boris Johnson nach unseliger Vorarbeit seiner Vorgängerin Theresa May erschaffen wurde. Es sollte dafür sorgen, dass es trotz Brexit auch weiterhin keine physische Grenze zwischen Nordirland und Irland gibt, indem Nordirland wie ein Mitglied des EU-Binnenmarktes behandelt wird. Das hatte zur Folge, dass damit eine Zoll-Grenze in der Irischen See zwischen Großbritannien und Nordirland entstand. Und das stört die Unionisten, politisch am stärksten vertreten durch die nordirischen Brexiteers der DUP, die nicht tatenlos zusehen wollen, wie Nordirland sich von Großbritannien entfernt, indem es in manchen Fragen behandelt wird wie ein EU-Mitglied. Dass die DUP im Mai vergangenen Jahres die Regionalwahlen in Nordirland gegen Sinn Féin verlor, verkompliziert die Lage zusätzlich: Sinn Féin hat ja kein Problem mit dem Nordirland-Protokoll, denn Sinn Féin hat auch kein Problem damit, wenn Nordirland sich von Großbritannien entfernt. Bis heute blockiert die DUP die Bildung der Regionalregierung in Nordirland, seit inzwischen neun Monaten.

Im Hintergrundgespräch sind die EU-Diplomaten etwas deutlicher geworden

Bei den "Prime Minister's Questions" diese Woche dankte der DUP-Chef Jeffrey Donaldson Sunak "für seine Arbeit im Zusammenhang mit dem Nordirland-Protokoll" und betonte, es müsse durch ein anderes Arrangement ersetzt werden. Sunak dankte daraufhin Donaldson "für die Rolle, die er in den vergangenen Monaten gespielt hat", er höre ihn "laut und klar", sagte Sunak. Es wirkte alles ein wenig theatralisch. Sunak, so sah es aus, wollte Stärke demonstrieren, für den mächtigen rechten Flügel in der eigenen Partei, für die Interessen der Unionisten. Und gegen Brüssel.

Die ganze Woche empfing Sunak immer wieder diverse Abgeordnete aus ebenjenem rechten Flügel, um sie zu beschwichtigen. Die Hardcore-Brexiteers in der Partei, unter ihnen die Innenministerin Suella Braverman, haben wie auch die DUP im Kern zwei Forderungen: Sie wollen, dass Sunak das von Johnson vorgeschlagene Gesetz durchbringt, das es dem Vereinigten Königreich einseitig ermöglichen soll, das Nordirland-Protokoll zu ignorieren. Und sie wollen, dass - anders als im Protokoll festgehalten - nicht der Europäische Gerichtshof im Streitfall die letzte Schieds-Instanz ist. Beides wiederum hält die EU für nicht erfüllbar. Nordirland ist de facto Teil des EU-Marktes, daher kann die letzte Schiedsstelle nach EU-Auffassung nur ein EU-Gericht sein. Was das Gesetz angeht, sind EU-Diplomaten im Hintergrundgespräch noch ein wenig deutlicher, sinngemäß zusammengefasst: Im Ernst?

Sunak hat, so sah es zunächst aus, das Nordirland-Thema als Chance gesehen, sich zu profilieren; zu zeigen, dass er Themen erledigen kann. Warum er sich nun auf den Machtkampf mit der DUP - dem Wahlverlierer in Nordirland - und dem eigenen rechten Flügel einlässt, dazu gibt es verschiedene Theorien, eine davon führt zurück zu Mark Logan. Wenn die Wähler das Nordirland-Protokoll nicht interessiert, der Rücktritt einer Innenministerin und der damit verbundene Eindruck, Sunak habe seinen Laden nicht im Griff, aber schon - dann gibt es für Sunak auch keinen Grund, einen Deal mit der EU gegen den Widerstand ebenjener Fraktionen durchzuziehen.

"Wir sind die Geisel von Leuten mit einer wirklich seltsamen Weltanschauung", das hat der frühere Premierminister Tony Blair im Dezember im SZ-Interview gesagt. Daran hat sich, wie es aussieht, nichts geändert.

Zur SZ-Startseite

Lebensmittelknappheit
:Gemüse ist das neue Klopapier

Britische Supermärkte schränken den Kauf von Obst und Gemüse ein. Tomaten, Paprika, Gurken, Kopfsalat: All das gibt es vorerst nur noch abgezählt. Über Sinn und Unsinn von Rationierung.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: