Wahl:Sinn Féin erstmals stärkste Kraft in Nordirland

Wahl: Sinn-Féin-Spitzenkanditatin Michelle O'Neill (rechts) macht ein Selfie mit Linda Dillon, die ebenfalls für einen Parlamentssitz kandidierte.

Sinn-Féin-Spitzenkanditatin Michelle O'Neill (rechts) macht ein Selfie mit Linda Dillon, die ebenfalls für einen Parlamentssitz kandidierte.

(Foto: CLODAGH KILCOYNE/REUTERS)

Historischer Wahlerfolg: Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands erringt die republikanisch-katholische Partei die meisten Sitze im nordirischen Parlament. Das ist eine Zäsur.

Von Alexander Mühlauer, London

Es ist eine Zäsur in der Geschichte Nordirlands: Zum ersten Mal seit Gründung der britischen Provinz im Jahr 1921 ist Sinn Féin stärkste Kraft im nordirischen Parlament. Die Partei, die den republikanisch-katholischen Teil der Bevölkerung vertritt, errang bei den Regionalwahlen 27 der 90 Sitze in der Northern Ireland Assembly. Sinn Féin liegt damit vor den unionistisch-protestantischen Parteien, allen voran der Democratic Unionist Party. Die DUP kam mit 25 Mandaten auf den zweiten Platz, gefolgt von der konfessionsübergreifenden Alliance Party, die ihre Fraktionsstärke mit 17 Sitzen mehr als verdoppeln konnte. Die Regierungsbildung in Belfast gilt als äußerst schwierig. Nordirland steht vor Monaten voller Unsicherheit, womöglich auch Gewalt.

Gemäß dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Nordirland-Konflikt beendete, müssen sich die zwei größten Parteien beider konfessionellen Lager die Macht teilen. Als Wahlsiegerin steht Sinn Féin das Amt der Regierungschefin zu, Spitzenkandidatin Michelle O'Neill dürfte First Minister werden. Kommt es so, wäre dies ein historischer Einschnitt, denn bislang wurde der Posten immer von Politikern aus Parteien besetzt, die sich für die Beibehaltung der Union mit Großbritannien einsetzen. Mit Sinn Féin steht nun erstmals jene Partei an der Spitze, die sich für eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland einsetzt. Sinn Féin war einst der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die gewaltsam für ein United Ireland kämpfte.

Ob eine Einheitsregierung aus Sinn Féin und DUP zustande kommt, ist völlig offen. DUP-Spitzenkandidat Jeffrey Donaldson kündigte an, eine Regierungsbildung zu blockieren. Seine Partei hatte im Februar ihren damaligen First Minister abgezogen und damit die frühere Einheitsregierung mit Sinn Féin platzen lassen. Grund dafür ist der Brexit-Vertrag, den der britische Premier Boris Johnson mit der Europäischen Union geschlossen hat.

Das Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU sieht einen Sonderstatus für Nordirland vor, der im sogenannten Nordirland-Protokoll festgelegt ist. Die DUP fürchtet, dass diese Vereinbarung dazu führt, dass Nordirland langfristig nicht mehr Teil des Vereinigten Königreichs sein könnte. Die Unionisten in Nordirland hatten während der Brexit-Verhandlungen immer wieder darauf gedrängt, dass die Provinz gleichbehandelt werde wie der Rest des Vereinigten Königreichs.

Weil Johnson sein Land aber aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion gelöst hat, musste aufgrund der geografischen Lage und der historischen Situation Nordirlands eine spezielle Lösung gefunden werden. Ziel war es, dass auf keinen Fall eine harte Grenze auf der irischen Insel errichtet wird, darüber herrscht nach wie vor Einigkeit zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern.

Die Lösung bestand also darin, dass in der britischen Provinz weiter EU-Regeln gelten, damit der Güterverkehr zwischen Nordirland und Irland nicht kontrolliert werden muss. Nur: Die von Johnson ausgehandelte Regelung bedeutet eben auch, dass der Güterverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland kontrolliert wird, schließlich könnten Waren, die nicht EU-Standards entsprechen, über Nordirland nach Irland, also in die EU, gelangen.

Boris Johnson hat eine Grenze in der Irischen See geschaffen

Die DUP und ihre Anhänger sehen darin nichts anderes als eine Spaltung des Vereinigten Königreichs. Denn im Grunde hat der Premier eine Grenze in der Irischen See geschaffen. Die DUP kämpft seitdem gegen die sogenannte "Irish Sea Border", der Brexit-Streit war ihr Wahlkampf-Thema Nummer eins. Auch nach der Abstimmung dürfte die DUP an ihrem Versprechen festhalten und erst in eine neue Regierung eintreten, wenn das Nordirland-Protokoll geändert wird.

In Londoner Regierungskreisen wird deshalb erwartet, dass Johnson den Wahlausgang in Nordirland für seine Zwecke benutzen wird. Der Premier dürfte gegenüber Brüssel argumentieren, dass niemand - auch nicht die EU - ein Interesse daran haben kann, dass Nordirland de facto ohne Regierung dasteht. Deshalb wird Johnson wohl einmal mehr eine Änderung jenes Vertrags fordern, den er selbst verhandelt und unterschrieben hat.

Der Premier will zunächst den Dialog mit der EU-Kommission suchen. Sollten die Gespräche zwischen London und Brüssel allerdings scheitern, dürfte Johnson auch nicht vor einem Vertragsbruch zurückschrecken. Laut britischen Medien lässt er bereits ein nationales Gesetz vorbereiten, mit dem Teile des Brexit-Abkommens ausgehebelt werden könnten. Der Times zufolge hat Johnson sogar schon einen Vertrauten nach Washington entsandt, um die dortige Regierung davon zu überzeugen, dass sein Vorgehen das Karfreitagsabkommen nicht infrage stellen würde. US-Präsident Joe Biden, der familiäre irische Wurzeln hat, hatte bereits mehrfach klargemacht, dass er das Good Friday Agreement für unantastbar hält.

In Brüssel verfolgt man Johnsons Manöver mit einem gewissen Argwohn. Einerseits sei dem Premier alles zuzutrauen, heißt es aus Kommissionskreisen. Andererseits bestehe durchaus die Hoffnung, dass Johnson die dringend nötige Einheit des Westens nicht mit einem erneuten Brexit-Streit gefährden will, schon gar nicht im Lichte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Sinn Féin vertritt im Brexit-Streit die Haltung der Wirtschaftsverbände in Nordirland

Laut Brexit-Vertrag muss das nordirische Regionalparlament spätestens im Jahr 2024 darüber abstimmen, ob das Nordirland-Protokoll beibehalten werden soll. Bislang sieht es so aus, dass die DUP von den anderen Parteien überstimmt werden dürfte. Sinn Féin etwa vertritt die Haltung der großen Wirtschaftsverbände in Nordirland, die lediglich technische Änderungen für geboten halten. Damit hätte auch Brüssel kein Problem.

Sinn Féin hatte versucht, das Brexit-Thema so gut wie möglich im Wahlkampf auszublenden. Die erfolgreiche Spitzenkandidatin O'Neill stellte vor allem Themen in den Mittelpunkt, die laut Meinungsumfragen als größte Probleme genannt wurden: die steigenden Energiepreise, die schlechte Gesundheitsversorgung und die akute Wohnungsnot.

Das ureigene Anliegen von Sinn Féin, nämlich die Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland, spielte im Wahlkampf eine geringe Rolle. Dennoch bleibt es bei dem erklärten Ziel von Sinn Féin, ein Referendum über die irische Einheit abhalten zu lassen. Geht es nach O'Neill, soll es noch in diesem Jahrzehnt soweit sein.

Der Generalsekretär von Johnsons konservativer Regierungspartei, Oliver Dowden, sagte am Tag nach der Wahl, dass London einer Volksabstimmung nicht im Wege stehen würde. Voraussetzung sei aber, dass sich eine andauernde Unterstützung der Nordirinnen und Nordiren für die Vereinigung in Meinungsumfragen abzeichne. Bisher sprechen sich dafür aber gerade mal etwa 30 Prozent der nordirischen Wählerinnen und Wähler aus.

Im Sinn-Féin-Lager hofft man deshalb auf das Jahr 2025. Spätestens dann finden die nächsten Wahlen in Irland statt. Auch dort hat Sinn Féin beste Chancen, die nächste Regierungschefin zu stellen. Sollte es tatsächlich dazu kommen, dass die republikanisch-katholische Partei in beiden Landesteilen der irischen Insel triumphiert, dürfte die Frage eines United Ireland wieder stärker in den Vordergrund rücken. Und mit ihr die Gefahr, dass die Gewalt in Nordirland wieder ausbrechen könnte.

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