Nordirland:Stillstand in Zeiten des Umbruchs

Nordirland: Das Land schaut staunend auf das Stormont, den Parlamentskomplex in Belfast. Statt einer Regierung regieren dort seit geraumer Zeit vor allem Beamte.

Das Land schaut staunend auf das Stormont, den Parlamentskomplex in Belfast. Statt einer Regierung regieren dort seit geraumer Zeit vor allem Beamte.

(Foto: Peter Morrison/AP)

Seit mehr als 18 Monaten fehlt in der Provinz die Regierung - und das, obwohl der Brexit existenzielle Fragen aufwirft.

Von Cathrin Kahlweit, London

Bisher hatte Belgien in Europa den Rekord aufgestellt, insgesamt 541 Tage war das Land Anfang des Jahrzehnts ohne Regierung gewesen. Nun hat Nordirland, wo die politischen Verhältnisse mindestens so kompliziert sind wie in Belgien, die hohe Latte gerissen: Mehr als 590 Tage sind ins Land gegangen, seit die Regierung aus protestantischer DUP (Democratic Unionist Party) und katholischer Sinn Fein (Irisch für "Wir selbst"), die den Nordteil der Insel gemeinsam regiert hatten, sich im Januar 2017 zerstritten. Eine Neuauflage ist nicht in Sicht. Die Bürgerbewegung "We deserve better" (Wir verdienen Besseres) hat bei Demonstrationen zuletzt Tausende auf die Straße gebracht. Die Bürger haben es satt, dass sich die ehemaligen Regierungsparteien gegenseitig die Schuld geben. Der Effekt der Proteste: null. Nun will London Druck machen. Nordirland-Ministerin Karen Bradley kündigte am Donnerstag Interventionen an, um die Streithähne an einen Tisch zu bekommen.

Anfang vergangenen Jahres war Sinn-Fein-Mann und Deputy First Minister (eine Art Vizepremier) Martin McGuiness wegen eines Streits über Subventionen für grüne Energien zurückgetreten, weshalb dann auch die First Minister, Arlene Foster von der DUP, gehen musste; laut einer unverbrüchlichen Regel des Karfreitagsabkommens können beide Seiten die Provinz nur zusammen oder gar nicht regieren. Seither haben die beiden Parteien nicht mehr zueinandergefunden.

Und auch wenn die Gründe dafür vordergründig ideologischer Natur sind - Streit über gleichgeschlechtliche Ehen, über ein Sprachengesetz -, so schaut doch das ganze Land mit Staunen auf den Stormont, den Parlaments- und Regierungskomplex in Belfast. Denn seit langer Zeit halten hier vor allem Beamte anstelle einer funktionierenden Regierung das Ruder in der Hand, während London aus der Ferne zu vermitteln sucht.

Dabei ist die Region mit dem Brexit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Der Streit über den von Brüssel vorgeschlagenen Backstop, nach dem Nordirland in der Zollunion bliebe, das Gespenst einer harten Grenze, die Bedrohung für Handel und Frieden auf der Insel - alles das sind auch für die Iren existenzielle Fragen.

Nun ist zwar Nordirland, wie Schottland und Wales, eine devolved nation, eine Nation mit großer Autonomie, und ob es was wird mit dem Brexit, das beschließen Politiker in London und den europäischen Hauptstädten. Viele Nordiren jedoch, zumal unter den Republikanern, hätten in der Brexit-Frage ganz gern auch eine eigene Stimme - und nicht nur die von DUP-Chefin Arlene Foster, die derzeit als Abgeordnete in Westminster sitzt und deren Partei seit der Wahlniederlage 2017 die Tory-Regierung stützt. Nun hätte Sinn Fein, wie die DUP, zwar auch Anrecht auf Sitze im britischen Parlament, lässt diese aus Protest gegen die britische Präsenz in Nordirland aber leer.

London droht, die nordirischen Abgeordneten-Diäten zu kürzen - es werde ja weniger gearbeitet

Die Stimmung in Nordirland ist mittlerweile so schlecht und so London-feindlich, dass sich laut einer aktuellen Umfrage mehr als ein Viertel der Bürger vorstellen könnten, nach einem Brexit für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland zu stimmen. Am Mittwoch war daher in Westminster eine aktuelle Stunde angesetzt gewesen, und die Ministerin war gehörig unter Druck geraten: Was denn, fragten die Abgeordneten, London konkret für eine Einigung in Belfast tue? Oder gegen eine drohende harte Grenze zur Republik Irland? Oder was man gegen den von Brüssel vorgeschlagenen Verbleib der Provinz in der Zollunion zu unternehmen gedenke?

Die Antworten blieben vage. Die Regierung habe nicht vor, so Bradley, die Idee von einem Backstop, der eine Zollgrenze in der irischen See nach sich zöge, zu akzeptieren. Am Donnerstag folgte dann eine Erklärung Bradleys im Unterhaus, die mehr Antworten enthielt: Neuwahlen in der Provinz seien nicht sinnvoll, aber sie werde im Oktober ein Gesetz präsentieren, mit dem auch ohne eine funktionierende Regierung Entscheidungen auf politischer Ebene gefällt werden könnten. Sie kündigte zudem als Druckmittel für eine Annäherung im Stormont an, den dortigen Abgeordneten die Diäten zu kürzen. Schließlich müssten sie ja nur reduzierte Arbeit leisten. Sie werde, so die Ministerin, zugleich aber weiter mit DUP und Sinn Fein verhandeln.

Denn natürlich wird auch in London mit Missmut zur Kenntnis genommen, dass in Belfast so gar nichts weitergeht. Über viele Jahre hinweg, während des Bürgerkriegs, war die Provinz aus London per direct rule regiert worden, aber das würde man derzeit in Whitehall gern verhindern. Rufe nach direkten Interventionen im Belfaster Machtkampf werden zurückgewiesen; die Regierung in London will nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich über die Interessen der devolved nations hinwegsetzt, dazu sind die Fliehkräfte der Separatisten, zumal in Schottland, zu stark.

Dennoch: Wichtige gesellschaftspolitische Probleme wie eine Novellierung des antiquierten Abtreibungsgesetzes, das im Süden der Insel gerade per Referendum gekippt worden ist, das marode Gesundheitssystem oder die nach wie vor rigide Trennung des Erziehungswesens in konfessionelle Lager müssten dringend angegangen werden.

"Hier stauen sich Hunderte unbewältigte Entscheidungen und viele Probleme, die nur größer werden, wenn man sie nicht angeht", sagt Seamus McAleavey, Chef einer großen Truppe von Freiwilligen, die sich in den nordirischen Kommunen engagiert. Dylan Quinn, der Kopf der Initiative "We deserve better", formuliert es ein bisschen kürzer: "Politiker, geht zurück an die Arbeit!"

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