50 Jahre "Battle of the Bogside":Als der Bürgerkrieg in Nordirland losbrach

Unruhen in Londonderry, 1969

Vom 12. bis zum 14. August 1969 kommt es in Derry/Londonderry zu Straßenschlachten zwischen Polizei und irischen Republikanern.

(Foto: SZ Photo)

In Derry/Londonderry kommt es am 12. August 1969 zu heftiger Gewalt zwischen Polizei und britischen Unionisten auf der einen und irischen Republikanern auf der anderen Seite. Der Brexit belastet nun erneut den fragilen Frieden in der katholisch dominierten Stadt.

Von Martin Anetzberger

Drei Brücken führen heute in Derry/Londonderry über den Foyle. Jenen Fluss, der die 85 000-Einwohner-Stadt im äußersten Nordwesten Nordirlands zerschneidet - links die Cityside, rechts die Waterside. Er trennt die fast ausschließlich irisch-katholische Bevölkerung im Westen von der mehrheitlich britisch-protestantisch geprägten am anderen Ufer. Südlich von Derry, wie es die Iren, beziehungsweise Londonderry, wie es die Briten nennen, bildet der Foyle die Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland.

Vor 50 Jahren gab es lediglich eine Brücke in der verarmten Stadt, die Craigavon Bridge im Süden, eine der wenigen Doppeldecker-Straßenbrücken Europas. Nun könnte man den Grund darin vermuten, dass sich die beiden nebeneinanderher lebenden Communitys oft wenig bis nichts zu sagen hatten. Doch lebten damals noch wesentlich mehr Protestanten am katholischen Westufer als heute (17 000 im Jahr 1971, 3200 im Jahr 2011). Und wahrscheinlich ist die Erklärung eher trivial: Der Fluss fließt für seine Größe sehr schnell. Eine Brücke über ihn zu bauen, war seit jeher eine aufwendige Angelegenheit.

Hier in Derry/Londonderry, in der Stadt mit dem flotten Fluss, kam es zwischen dem 12. und dem 14. August 1969 zu schweren Auseinandersetzungen zwischen proirischen Katholiken auf der einen und der nordirischen Polizei RUC (Royal Ulster Constabulary, fast ausschließlich protestantisch) und probritischen Protestanten auf der anderen Seite. Diese "Battle of the Bogside" genannten Straßenkämpfe im gleichnamigen katholischen Arbeiterviertel werden vielfach als Eskalation im Nordirlandkonflikt gesehen. Sie führte zum erstmaligen Einsatz von Soldaten in der britischen Provinz und erreichte mit dem Bloody Sunday von 1972, als britische Fallschirmjäger 13 unbewaffnete Bürgerrechtsdemonstranten erschossen, ihren vorläufigen Höhepunkt.

Dass die Lage ausgerechnet dort eskalierte, ist kein Zufall. Obwohl Derry/Londonderry traditionell eine irisch-katholische Bevölkerungsmehrheit hat, wurde es nach der Teilung Irlands 1921 Nordirland zugeschlagen. Den Stadtrat dominierten dennoch stets britische Unionisten, Befürworter der Einheit Großbritanniens, weil der Zuschnitt der Wahlkreise die irische Bevölkerung diskriminierte. Zudem durften bei den Kommunalwahlen nur Wohnungs- und Hausbesitzer, Mieter sowie deren Ehepartner wählen, nicht aber beispielsweise Untermieter. Eine Praxis, die die meist ärmeren Katholiken benachteiligte. In den sechziger Jahren begann die irische Community unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung in den USA, gegen diese Missstände aufzubegehren.

Mit der Nordirischen Bürgerrechts-Vereinigung (NICRA) bildete sich 1967 ein Dachverband, der den Anspruch erhob, sich für eine gerechtere Gesellschaft für alle, unabhängig von der Konfession, einzusetzen. Seine Forderungen waren unter anderem gleiches Wahlrecht für alle, ein fairer Zuschnitt der Stimmbezirke und mehr Gerechtigkeit bei der Vergabe von Jobs und Wohnraum. Die Anhänger rekrutierten sich konsequenterweise vor allem aus der katholischen Bevölkerung. Mehr und mehr gewannen allerdings radikale Republikaner in der Bewegung an Einfluss. Diesen reichte eine Verbesserung der Zustände innerhalb Nordirlands nicht, sie strebten ein vereinigtes Irland an und forderten durch Proteste und Provokationen die Staatsgewalt gezielt heraus.

Am 5. Oktober 1968 löste die nordirische Polizei RUC in Derry/Londonderry eine friedliche, allerdings verbotene, Kundgebung mit 400 Teilnehmern brutal auf. Die Einheiten verfolgten Flüchtende und prügelten auch auf unbeteiligte Bürger ein. Einige Demonstranten suchten in der Bogside Schutz, in der Anwohner die Polizisten mit Steinen und Brandbomben attackierten. Es war das erste Mal, dass eine breite internationale Öffentlichkeit Notiz vom Konflikt in Nordirland nahm, auch weil Journalisten die Polizeigewalt auf Film festgehalten hatten.

Tränengas, Steine und Brandbomben

Am Neujahrstag 1969 marschierten etwa 40 militante Mitglieder der studentischen People's Democracy von Belfast nach Derry/Londonderry und durchquerten dabei protestantisches Gebiet. Kurz vor der Stadt griffen radikale Unionisten, sogenannte Loyalisten, die Demonstranten mit Steinen und Stöcken an. Die RUC ließ es geschehen. Auch in der Stadt kam es zu Übergriffen, und am Abend stürmte eine Spezialeinheit der Polizei, die sogenannten B-Specials, die Bogside, wo sie Passanten angriff und Wohnungen beschädigte.

Als im Juli zwei katholische Zivilisten starben, nachdem sie in Derry/Londonderry beziehungsweise im nahe gelegenen Dungiven von der Polizei mit Schlagstöcken traktiert worden waren, radikalisierte sich die Bewegung mehr und mehr. Das Vertrauen der Katholiken in die staatlichen Organe schwand weiter. Im August 1969 kam es schließlich zu den Ereignissen, die als "Battle of the Bogside" in die Geschichte eingingen. Auslöser war der Marsch des protestantischen Apprentice-Boys-Ordens am 12. August, der traditionell das Ende der katholischen Belagerung Derrys/Londonderrys im 17. Jahrhundert feiert. Da er nahe an der Bogside vorbeiführte, gelang es der Polizei nicht, Anwohner und Ordensmitglieder voneinander zu trennen. Die RUC versuchte, das mit Barrikaden gesicherte Viertel zu stürmen, das die Bogsider mit Steinen und Brandbomben verteidigten. Die Polizei setzte große Mengen Tränengas ein. Einigen Protestanten gelang es, ins Viertel vorzudringen, was bei den Katholiken die Angst auslöste, ihre Häuser würden erneut angegriffen. Am 13. August breitete sich die Gewalt über die ganze Stadt aus.

Der Brexit bedroht den fragilen Frieden

Die Regierungen in Dublin und London sahen sich zum Handeln genötigt. "Die irische Regierung kann nicht länger ruhig bleiben und zusehen, wie unschuldige Menschen verletzt werden", sagte Taoiseach (Premier) Jack Lynch. Einige glaubten, dass ein irischer Einmarsch bevorstehe. Tatsächlich schickte Dublin die Armee lediglich an die Grenze, um Verletzte zu behandeln. London entsandte schließlich Truppen. Den Einmarsch am 14. August feierten die irischen Republikaner nach zwei Tagen und Nächten des Kämpfens als Sieg über die Polizei. Die meisten Katholiken begrüßten die britischen Soldaten zunächst als neutrale Macht. In Derry/Londonderry kehrte vorübergehend Ruhe ein, doch die Gewalt hatte längst andere Städte Nordirlands erreicht, wo sich ortsansässige Katholiken mit den Bogsidern solidarisierten. Im Gegensatz zu Derry/Londonderry starben dort in diesen Tagen auch Menschen, sieben Katholiken und zwei Protestanten wurden erschossen. In der Hauptstadt brannten Loyalisten in der Bombay Street katholische Häuser nieder, Hunderte Belfaster wurden aus ihren Heimen vertrieben. Eine Art Bürgerkrieg hatte begonnen.

Seit jener Zeit blieb die Bogside für Jahre verbarrikadiert. Das für Armee und Polizei unzugängliche Gebiet erlangte als "Freies Derry" Berühmtheit. Noch heute steht auf einer Mauer am Rand des Viertels in Großbuchstaben "You are now entering Free Derry". Der Nordirlandkonflikt, verharmlosend auch als "The Troubles" bezeichnet, dauerte fast drei Jahrzehnte und endete mit dem Karfreitagsabkommen von 1998. Seitdem leben die beiden Communitys in einer Art kaltem Frieden zwar nicht miteinander - gemeinsame Schulen und Mischehen sind nach wie vor sehr selten -, aber immerhin in weitgehend friedlicher Koexistenz.

Im Jahr 2011 baute man in Derry/Londonderry als Zeichen der Hoffnung mitten in der Stadt die dritte Brücke über den Fluss (die zweite wurde in den achtziger Jahren im Norden als Teil einer Umgehungsstraße errichtet). Der sich über den Foyle schlängelnde Weg für Fußgänger und Radfahrer wird von zwei schräg in den Fluss hineinragenden Masten gestützt. Sie stehen als Symbol für die beiden Communitys, die sich aufeinander zubewegen sollen. Der Name des Bauwerks: Peace Bridge.

Es ist ein Frieden, dessen Brüchigkeit erst das Brexit-Votum von 2016 wieder zum Vorschein brachte. Im Wahlkreis Foyle, der aus Derry/Londonderry und seinem Umland besteht, stimmten mehr als 78 Prozent der Wähler für einen Verbleib in der Europäischen Union. Im gesamten Nordirland, das sich insgesamt mit knapp 56 Prozent gegen den Brexit entschied, gibt es keinen Wahlkreis, der sich so deutlich zur EU bekannte. Der bevorstehende Brexit könnte die Bevölkerung der Stadt besonders hart treffen, da die nur wenige Meter entfernte Grenze zu Irland zur EU-Außengrenze und damit wieder spürbar werden könnte.

Ein Horrorszenario für die irisch-katholische Bevölkerung, die sich mehrheitlich mit dem Status quo arrangiert hat, weil die Grenze unsichtbar ist und im Alltag keine Rolle spielt. Eigentlich strebt sie aber weiterhin eine Vereinigung mit der Republik Irland, die im Karfreitagsabkommen als Option explizit festgehalten ist. Auch viele Protestanten profitieren vom freien Verkehr zwischen den Ländern. Der neue Premier Boris Johnson gilt als Gegner des von Theresa May mit der EU verhandelten Backstops, der dort eine harte Grenze vermeiden soll. Als er kürzlich in Belfast zum Antrittsbesuch war, gab es Proteste gegen seinen Kurs: Johnson schließt nämlich auch einen No-Deal-Brexit nicht aus. Der konservative Premier ist vor allem den Brexit-Hardlinern und den Unionisten, nicht zuletzt seinem nordirischen Koalitionspartner DUP, verpflichtet. Die rechte Partei beäugt argwöhnisch jede Entwicklung, die eine irische Wiedervereinigung wahrscheinlicher machen könnte. Für die Unionisten, die alles Irische strikt ablehnen, ist es absolut inakzeptabel, eines Tages von Dublin aus regiert zu werden.

In Derry/Londonderry sind die Spannungen in den vergangenen Monaten spürbar größer geworden. Die New IRA, eine Splittergruppe der irisch-republikanischen Untergrundbewegung IRA, erschoss im April die Journalistin Lyra McKee, als es wegen einer Hausdurchsuchung im katholischen Stadtteil Creggan zu Ausschreitungen gekommen war. Die Kugeln hatten laut dem Bekennerschreiben eigentlich den Polizisten gegolten. Bereits im Januar war vor einem Gerichtsgebäude eine Autobombe hochgegangen. Auch hier bekannte sich eine sich "IRA" nennende Gruppe zu der Tat. Der Konflikt war eingefroren, nun droht er erneut heiß zu werden.

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