Nordirlandkonflikt:Eine Lunte, die seit 100 Jahren brennt

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Eine Straßenszene mit einer protestantisch-unionistischen Wandmalerei in Belfast 2009. Der Konflikt um den Status Nordirlands ist seit dem Ende des irischen Unabhängigkeitskrieges 1921 immer wieder Auslöser von Gewalt. (Foto: Jeff J Mitchell/Getty Images)
  • Ein Anschlag im nordirischen Londonderry weckt Erinnerungen an die schlimmste Zeit der Konflikte in Nordirland.
  • Besonders ab den 60er Jahren haben sich paramilitärische Gruppen von katholischen Republikanern und protestantischen Unionisten bekämpft und zahlreiche Anschläge begangen.
  • Die Brexit-Verhandlungen gefährden auch 20 Jahre Friedensprozess auf der irischen Insel.

Von Christian Simon

Gegen halb acht am vergangenen Samstag hinterlässt ein Anrufer eine Warnung bei der Telefonseelsorge der britischen Region West Midlands: Vor dem Gerichtsgebäude der Stadt Londonderry in Nordirland befinde sich eine Autobombe. Die Empfänger der Nachricht verständigen die örtliche Polizei, die wiederum ihre Kollegen in Nordirland verständigt. Dort war das Fahrzeug bereits aufgefallen, die Evakuierung der umliegenden Gebäude hatte schon begonnen. Um kurz nach acht explodiert die Bombe.

Die Polizei macht die irisch-nationalistische Splittergruppe "New IRA" für den Anschlag verantwortlich. Mark Hamilton, Vizepolizeichef der nordirischen Polizei, sagte der Irish Times nach dem Anschlag, die Aktivität der Dissidentengruppen in Nordirland schwanke regelmäßig. Die Autobombe von Londonderry sei aber "offensichtlich ein bedeutsamerer Angriff als andere in der jüngeren Vergangenheit."

Die Spannungen innerhalb Irlands sind zuletzt durch die Brexit-Verhandlungen und die Gefahr einer harten Grenze zwischen den Landesteilen wieder gestiegen, das Datum des Anschlags birgt aber auch historischen Sprengstoff. Fast genau 100 Jahre zuvor, am 21. Januar 1919, erklärt die irisch-republikanische Partei Sinn Feín Irland für unabhängig. Am selben Tag attackieren Kämpfer der Irish Republican Army um den Rebellenführer Seán Treacy bei Soloheadbeg im irischen County Tipperary einen britischen Konvoi, töten zwei Soldaten und erbeuten Waffen und Munition. Obwohl die IRA auf eigene Initiative handelt, gilt der "Soloheadbeg Ambush" als erstes Gefecht des irischen Unabhängigkeitskrieges, der bis 1921 andauert und mit der Gründung des Irischen Staates sowie der Teilung zwischen Irland und Nordirland endet.

Der erste Hinweis auf eine Verbindung dieses Datums zum Anschlag in Londonderry kam aus den Reihen der radikalen Republikaner selbst. In einem Statement der 2016 unter anderem von ehemaligen IRA-Kämpfern gegründeten Kleinpartei Saoradh ("Befreiung") heißt es: "Es scheint, dass 100 Jahre nachdem Seán Treacy und seine Genossen der Krone einen historischen Schlag versetzten, andere Genossen die unvollendete Revolution weiterführen."

Seit den 60ern steigen die Spannungen

Dabei ist es nicht so, dass die "unvollendete Revolution" in Irland bis dato geruht hätte. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen meist katholischen Republikanern, die ein vereintes Irland anstreben, und protestantischen Unionisten, die sich als Briten fühlen. Besonders entzündet sich die Gewalt am Status Nordirlands. Die Radikalen unter den irischen Republikanern akzeptierten die Teilung des Landes im Zuge des Unabhängigkeitskrieges nie. Besonders in den späten 1960er Jahren entflammt der Konflikt zu einem Guerillakrieg, der als "The Troubles" in das kollektive irische Gedächtnis eingeht.

Katholische Republikaner in Nordirland demonstrieren ab Mitte der 60er immer wieder für mehr Bürgerrechte. Gegenüber den unionistisch eingestellten Protestanten werden sie etwa bei der Jobvergabe oder im Wahlrecht diskriminiert. Die Auseinandersetzungen führen zur Gründung der Ulster Volunteer Force (UVF) und anderer paramilitärischer, radikal unionistischer Gruppen und schließlich 1969 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in Belfast. Im August 1969 schreitet die britische Armee ein und beendet die Straßenschlachten. Die Spannungen zwischen Republikanern und Unionisten steigen dadurch noch weiter.

Die nächsten dreißig Jahre sind geprägt von Anschlägen und Gewalt radikaler Gruppen. Einer von vielen traurigen Höhepunkten wird 1996 erreicht, als die IRA in Manchester den größten Bombenangriff auf Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkrieges verübt. Trotz einer telefonischen Warnung vorab werden mindestens 200 Menschen verletzt. Erst zwei Jahre später hat der Friedensprozess Erfolg: Am 10. April 1998 einigen sich die Regierungen Großbritanniens und Irlands sowie die meisten nordirischen Parteien auf das Karfreitagsabkommen.

Darin wird der Wunsch nach einer Wiedervereinigung Irlands als legitim bezeichnet, aber auch anerkannt, dass eine Mehrheit der Nordiren Teil Großbritanniens bleiben möchte und diese Mehrheit gilt. Verschiedene Institutionen zur Befriedung der Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten werden geschaffen, etwa die North Ireland Executive, eine Art quotierte Regierung, in der die Macht zwischen beiden Communities geteilt wird. Es sind die in dieser Vereinbarung angestoßenen Prozesse, die dazu führen, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland heute kaum wahrnehmbar ist.

Paramilitärische Strukturen bestehen fort

Das Karfreitagsabkommen hat den Konflikt befriedet, aber keinesfalls gebannt. Die meisten Paramilitärs beider Seiten haben ihre Waffen zwar niedergelegt, doch verschiedene Splittergruppen mit Namen wie "Real IRA" oder eben "New IRA" bestehen weiter und bekennen sich auch weiterhin zu einzelnen Anschlägen. "Die Dissidentengruppen in Nordirland sind kleine Gruppen, und jeder sollte sich daran erinnern, dass sie nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung haben", sagt die nordirische Polizei.

Doch die Strukturen gibt es noch, und offenbar auch die Bereitschaft zur Gewalt. Nicht umsonst ist die innerirische Grenze der Knackpunkt der Brexit-Verhandlungen. Im Falle eines harten Brexits, also des unkontrollierten Austritts der Briten aus der EU, gäbe es keine andere Möglichkeit, als Grenz- und Zollkontrollen zwischen Irland und Nordirland wieder einzuführen. Irlands Premierminister Leo Varadkar hat das bisher ausgeschlossen: "Ich erinnere mich, wie ich als Teenager an der Grenze war. Ich erinnere mich an die Soldaten und die Kontrollen und ich möchte nichts davon jemals wieder sehen", sagte er im irischen Parlament.

Der Anschlag von Londonderry zeigt, dass der Weg zu Soldaten und Kontrollen nur kurz sein könnte und es bei den Brexit-Verhandlungen in der Irland-Frage um mehr geht als Einfuhrbestimmungen und Zollkontrollen. Denn eine harte Grenze auf der irischen Insel könnte Extremisten auf beiden Seiten neue Munition geben und den mehr als 100 Jahre andauernden Konflikt neu beleben. Dann könnte es wieder Guerillakampf geben - mitten in Europa.

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