Süddeutsche Zeitung

Nordirland:Blutrote Hände

Eine Nachfolge­organisation der Irisch-Republikanischen Armee bekennt sich zur Tötung einer Journalistin. Der Fall zeigt: Auch 21 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen kann von Frieden keine Rede sein.

Von Cathrin Kahlweit, London

Eine Nachfolge-Organisation der Irisch-Republikanischen Armee, die sogenannte New IRA, hat am Dienstag die Verantwortung für die Ermordung der nordirischen Journalistin Lyra McKee übernommen. Der Tod der 29-Jährigen sei ein tragisches Versehen gewesen, hieß es in dem Bekennerschreiben der 2012 gegründeten Gruppe; man entschuldige sich bei ihrer Familie. Allerdings war in dem Schreiben, das an die Irish News ging, auch zu lesen, dass die Kugeln, die am Abend des 18. April bei Ausschreitungen am Rande einer Hausdurchsuchung im Ortsteil Creggan in der nordirischen Stadt Londonderry/Derry abgefeuert worden waren, eigentlich Polizeibeamten gegolten hätten; man habe die Freiwilligen, die sich den Polizeimaßnahmen widersetzten, angewiesen, mit äußerster Vorsicht im Kampf gegen "den Feind" vorzugehen. Dabei sei McKee versehentlich getroffen worden.

Die "Neue IRA" entschuldigt sich - für die Historikerin ist das nichts als die "übliche Heuchelei"

Die Entschuldigung der Neuen IRA, einer paramilitärischen Splittergruppe, die auch nach dem Ende des Bürgerkriegs weiter mit Gewalt für eine Wiedervereinigung der Republik Irland mit dem Nordteil der Insel kämpft, ist daher in den Augen vieler Iren nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Die irische Historikerin Ruth Dudley Edwards sagte am Morgen in der BBC empört, dies sei die "übliche Heuchelei" der Terroristen, denen der Tod einer Unbeteiligten nach eigenen Angaben leid tue. Hätte es aber Polizeibeamte getroffen, "hätten alle gefeiert". Offenbar sei Nordirland dazu verdammt, dass Männer in Uniformen Waffen in die Hand nähmen und Morde rechtfertigten.

Tatsächlich kann auch 21 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den 30 Jahre währenden Bürgerkrieg in Nordirland formell beendete, von Frieden keine Rede sein. Das hat nicht erst McKees Ermordung gezeigt. Paramilitärs der IRA, die mit Terror und Gewalt den Abzug der Briten aus Nordirland und die Wiedervereinigung der 1920 geteilten Insel erzwingen wollten, hatten 2005, sieben Jahre nach dem Friedensabkommen, das Ende der bewaffneten Kampagne erklärt. Man werde die Waffen abgeben und von nun an den Kampf für ein vereintes Irland nur noch mit politischen und demokratischen Mitteln führen.

Dennoch bildeten sich aus Überresten der alten Terrortruppe und neuen Kämpfern mehrere kleine Gruppierungen, unter anderem die Real IRA und die Continuity IRA, die weiterhin Waffenlager anlegten, Bomben zündeten, Polizeiwachen und Gerichte angriffen. Sie finanzierten sich nach Angaben der nordirischen Polizei unter anderem durch Drogenhandel und Kleinkriminalität. Es gab aber, auch nach dem Karfreitagsabkommen, auch immer wieder größere Anschläge mit Toten und Verletzten. Zahlreiche Attentate konnten von nordirischen Polizeikräften aber auch verhindert werden; der Geheimdienst unterwanderte die Splittergruppen, sodass die Real IRA sich Ende der Nullerjahre wieder auflöste.

Jene, die weiterkämpfen wollten, fusionierten vor etwa sieben Jahren zur New IRA. Diese brüstet sich nun mit dem Kampf gegen "schwer bewaffnete britische Polizeikräfte", welche die Ausschreitungen in Derry "provoziert" hätten. Die radikale Gruppe gilt als neue und ideologisch hochmotivierte Nachfolge-Organisation der alten IRA, von der sich Ende der 1960er-Jahre wiederum die Provisorische IRA abgespalten hatte, die dann den bewaffneten Kampf weiterführte. Sie besteht heute aus Dissidenten, die das Niederlegen der Waffen und den friedlichen Kampf als wirkungslos verurteilen. Allein in den vergangenen Monaten, in denen - mit dem Streit um den Brexit und die Sonderrolle Nordirlands nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU - die Spannungen zwischen den verfeindeten Gruppen in Nordirland wieder merklich zugenommen haben, gab es zahlreiche Bombenattentate, die laut Polizei auf das Konto der Terrorgruppe gehen. Diese ist, wie ihre Vorbilder, hierarchisch und militärisch organisiert; das irische Justizministerium spricht von weniger als 200 aktiven Mitgliedern, die zum Teil aus alten Kämpfern sowie zum Teil aus kampfunerfahrenen Teenagern und jungen Männern bestehe. Gleichwohl ist eine Liste, in der die BBC Terrorakte der vergangenen Jahre auflistet, seitenlang.

Die Kämpfer haben mittlerweile auch einen neuen politischen Arm, eine Kleinpartei namens Saoradh, die sich bis heute dem Friedensgebot, das im Karfreitagsabkommen niedergelegt ist, widersetzt. Ein Vertreter von Saoradh aus Creggan, wo Lyra McKee am vergangenen Donnerstag getötet wurde, hatte das Vorgehen der "republikanischen Freiwilligen" mit der Begründung verteidigt, es sei ein Fehler der Polizei gewesen, im Vorfeld der historischen Märsche der Katholiken zum Gedenken an den irischen Osteraufstand 1916 Hausdurchsuchungen am Abend vorzunehmen, wenn viele junge Menschen auf der Straße seien. Diese Teenager hätten sich durch das Auftreten der Polizeikräfte gezwungen gesehen, die Häuser mutmaßlicher Sympathisanten zu verteidigen.

Die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Terroristen hat sich inzwischen drastisch verringert

Während sich Methoden und Ziele der neuen IRA offenbar wenig von denen der Bürgerkriegs-IRA unterscheiden, hat sich die Akzeptanz der Bevölkerung für die Terroristen drastisch verringert. In Derry (das die Briten Londonderry nennen) sind in den von Katholiken bewohnten Stadtteilen bis heute Wandmalereien mit Slogans der Freiheitskämpfer zu sehen. Auf einer Hauswand steht zu lesen: "Sie betreten jetzt das freie Derry". Trauernde haben darunter geschrieben: "Not in our name", nicht in unserem Namen, und darunter, als Mahnung, den Namen der Toten. Freunde der getöteten Journalistin Lyra McKee haben ein Parteibüro der IRA-Partei Saoradh mit blutroten Händen bemalt.

Zudem haben sich Vertreter aller Parteien, von Sinn Fein und DUP, von Katholiken und Protestanten, nach den Ausschreitungen gemeinsam versammelt, um Lyra McKee zu gedenken, zum Gewaltverzicht und zur Wahrung des Karfreitagsabkommens aufzurufen - allein das galt vielen Nordiren als historischer Akt in einer Region, in der die großen Parteien seit mehr als zwei Jahren keine Koalition mehr gebildet haben und die Provinz de facto unregiert ist. Auch Rufe nach einer Annäherung der zerstrittenen Parteien und einer Wiedereinsetzung der Regierung wurden laut.

Bei einem Protestmarsch wandte sich auch die Bevölkerung der Stadt, die von dem Bürgerkrieg mit 3000 Toten und etwa 40 000 Verletzten besonders betroffen war, gegen neue Gewalt. Am Dienstag nahm die Polizei eine 57-jährige Frau fest, die in Verbindung mit der Ermordung von McKee stehen soll.

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SZ vom 24.04.2019
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